Aufarbeitung von Gewalt im Sport "Dann bin ich überrumpelt worden durch Schläge auf den Rücken"
Nach einer ARD-Dokumentation erklärte der Deutsche Schwimm-Verband, er wolle sich seiner Vergangenheit stellen und Gewaltvorfälle künftig besser aufarbeiten. Neue ARD-Recherchen zeigen, wie Wunsch und Wirklichkeit auch jetzt noch auseinanderklaffen.
Im Jahreskalender des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV) gehören die Deutschen Jahrgangsmeisterschaften zu den Highlights. Jedes Jahr treten dort Nachwuchsschwimmer aus der gesamten Republik gegeneinander an. So auch 2023 in der Schwimm- und Sprunghalle im Europasportpark in Berlin. Dort verfolgten am ersten Wettkampftag Mannschaft und Trainerin eines der traditionsreichsten deutschen Schwimmvereine ein Rennen von der Tribüne aus. Während eines Rennens feuerten Teamkameraden die Schwimmer mit einer Trommel von der Tribüne aus an - bis es zu einem Vorfall kommt, dessen Aufarbeitung viel über den Umgang des DSV mit dem Thema Gewalt aussagt.
Ein damals 16 Jahre alter Schwimmer berichtet der ARD an Eides statt: "Wir haben für einige Zeit laut getrommelt, bis eine Frau uns wütend die Trommelstöcke aus der Hand nahm. Mit einem Trommelstock hat sie mir danach auf den Kopf geschlagen." Danach sei er "geschockt und fassungslos" gewesen - es sei aber noch weitergegangen, auch eine weitere Person war offenbar betroffen.
"Heulend auf die Toilette gegangen"
"Ich habe mich auf das Rennen meiner Sportler konzentriert", erzählt der ARD die Schwimmtrainerin, die auf der Tribüne in der Nähe ihres 16-jährigen Schützlings gesessen hatte: "Und dann bin ich vollkommen überrumpelt worden durch Schläge auf den Rücken." Die Schwimmtrainerin sei gleichzeitig von derselben Frau mitten in der Schwimmhalle während des Rennens beschimpft worden: "Und das nicht in einem normalen Tonfall, sondern sie hat mich wirklich angeschrien. Ich habe ihr gesagt, dass sie das bitte jetzt unterlassen soll. Sie hat aber nicht aufgehört."
Nach dem Rennen, so schildert es die betroffene Schwimmtrainerin, sei sie "nur noch heulend auf Toilette gegangen". Zwei Zeugen erklären der ARD, dass sich die Vorfälle so zugetragen hätten, einer davon gab eine eidesstattliche Versicherung ab. Der DSV sei zeitnah informiert worden. Ob die vermeintlichen Schläge im Affekt oder als gezielte Aggression stattgefunden hatten, lässt sich nicht aufklären. Bei der Beschuldigten handelt es sich um eine ehemalige Bundestrainerin, die an diesem Tag in offizieller Funktion für den DSV tägig war. Sie antwortete auf ARD-Anfrage, niemanden geschlagen zu haben und widerspricht damit den Angaben der Betroffenen.
Betroffene über DSV-Antwort: "Enttäuscht, schockiert und traurig"
ARD-Recherchen zeigen: Nach Bekanntwerden der Anschuldigungen passierte lange Zeit nichts. Der damalige DSV-Vizepräsident Wolfgang Rupieper wandte sich erst viele Monate später zunächst an die betroffene Vereinstrainerin, dann an die Beschuldigte. Wiederum einige Zeit später bestätigte er in einer internen E-Mail, die der ARD vorliegt, den Vorfall - und beschwichtigte, dass "von einem Verprügeln nicht die Rede sein" könne, denn die "betroffene Trainerin" habe "dadurch keine Verletzungen davongetragen oder Schmerzen erlitten".
Wolfgang Rupieper, ehemaliger Vize-Präsident des Deutschen Schwimm-Verbandes.
Rupieper schob nach, dass eine Sanktionierung der ehemaligen Bundestrainerin "unverhältnismäßig" gewesen wäre, da es vorher ein Fehlverhalten durch ein nach den Wettkampfbestimmungen verbotenes Trommeln gegeben habe. Doch kann ein solcher Auslöser physische Gewalt legitimieren?
Die Antwort des damaligen Vizepräsidenten habe die betroffene Vereinstrainerin "enttäuscht, schockiert und traurig" gemacht. "Man hatte den Eindruck, dass das für den damaligen DSV-Vizepräsidenten überhaupt keine Relevanz hatte, dass das doch eher runtergespielt wurde. Aber Schläge auf Trommeln mehr oder weniger gleichzusetzen mit Schlägen auf Personen, finde ich schon hart", so ihre Interpretation.
Ab wann hat sich der DSV damit auseinandergesetzt?
Auf ARD-Anfrage schickte der DSV ein schriftliches Statement, in dem der Verband den Vorfall bestätigte. Er habe im Mai 2024 durch eine "offizielle Meldung" davon erfahren. Der "zuständige DSV-Gewaltschutzbeauftragte" sei daraufhin der Meldung nachgegangen und habe Personen angehört. Die neue DSV-Führung um den Präsidenten David Profit habe daher "kürzlich" ein Disziplinarverfahren eingeleitet und nach dessen Abschluss die Beschuldigte ermahnt. Es habe sich nicht "um eine Körperverletzung" gehandelt, "jedoch um eine der Situation geschuldeten Überreaktion", schreibt der DSV.
Die angesprochene Führungsspitze des Verbandes ist seit einigen Monaten im Amt: im April übernahm David Profit das Amt des Präsidenten. Seit Anfang November leiten zwei hauptamtliche Vorstandsmitglieder die operativen Geschäfte. Die Frage jedoch, ob und inwieweit der ehemalige Vizepräsident Rupieper in die Aufarbeitung des Vorfalls involviert war, beantwortet der DSV nicht konkret. Zur Erinnerung: Laut Aussage der Betroffenen habe Rupieper sich zu Beginn des Jahres 2024 an sie gewandt, und sie sei, ebenso wie eine weitere mit dem Vorfall vertraute Person, mit dem Ausgang der Gespräche nicht zufrieden gewesen.
Rupieper war im Frühjahr 2024 nach eigenen Angaben auch kommissarischer "Beauftragter für die Prävention sexualisierter Gewalt" des Verbandes. Er erklärte auf ARD-Anfrage, er habe erst Ende Mai 2024 von dem Sachverhalt erfahren, Gespräche mit den Betroffenen geführt und die Angelegenheit dann der neuen DSV-Führung übergeben.
ARD-Dokumentation als Grundlage für "Leuchtturmprojekt"
Dieser Fall aus Berlin zeigt, wie schwer sich der DSV bis heute mit seiner eigenen Vergangenheit tut. Im August 2022 waren durch die ARD-Dokumentation "Missbraucht: Sexualisierte Gewalt im Schwimmsport" mehrere Missbrauchsfälle im Schwimmen bekannt geworden. Darunter auch der des ehemaligen Weltklasse-Wasserspringers Jan Hempel, der von seinem Trainer jahrelang missbraucht worden war. Gerade dieser Fall hatte die Sportwelt erschüttert, weil Hempel die bis dato wohl massivsten Missbrauchsvorwürfe im deutschen Spitzensport öffentlich gemacht und dabei auch das Verhalten des Verbands kritisiert hatte. Der habe laut Hempel kaum Konsequenzen gezogen und vor allem seine eigenen Interessen geschützt.
Der DSV hatte daraufhin angekündigt, sich seinen Verfehlungen stellen zu wollen. Initiator dieses Prozesses war damals Vizepräsident Rupieper, der im März 2023 eine unabhängige Kommission damit beauftragte, die Fälle aus der ARD-Doku aufzuarbeiten. Mit diesem "Leuchtturmprojekt", wie Rupieper es bezeichnet hatte, sollten Maßstäbe auch für andere deutsche Sportverbände gesetzt werden.
Schwimmvereine sollen Empfehlungen der Kommission umsetzen
Nach 18 Monaten Arbeit hatte die Kommission aus Wissenschaftlern der Deutschen Sporthochschule Köln Ende Oktober dem DSV einen Bericht übergeben. Kommissionsmitglied Bettina Rulofs bilanziert im Gespräch mit der ARD: "Uns ist es gelungen, im Schwimmsport strukturelle Defizite aufzudecken, die dazu geführt haben, dass sexuelle Übergriffe stattfinden konnten." Nach einem Vorfall seien beispielsweise Meldewege oft nicht klar, sodass eine betroffene Person nicht wisse, an wen sie sich überhaupt wenden solle und was dann mit der Information passiere.
Die Kommission gibt zahlreiche weitere Empfehlungen an den DSV und spricht sich für die Einführung von Schutzkonzepten aus. Wie diese in den 18 Landesverbänden und etwa 2.300 Schwimmvereinen umgesetzt werden sollen, ist derzeit noch unklar und Thema vieler Diskussionen auf dieser Ebene.
Trotz Vorgeschichte: Würzburg bleibt Bundesstützpunkt
Das zeigt auch eine weitere ARD-Recherche. Zu den "Sachverhaltskomplexen", die im Bericht der Kommission untersucht worden sind, gehört auch der Bundesstützpunkt Freiwasserschwimmen in Würzburg. Nach der ARD-Dokumentation war der Verein SV Würzburg 05 trotz zahlreicher sportlicher Erfolge durch Sexualstraftaten seines erfolgreichsten Trainers Stefan Lurz in Verruf geraten. Noch im Sommer 2024 hatte der DSV deswegen angekündigt, den Bundesstützpunkt in Würzburg zu schließen.
Nach ARD-Informationen galten damals München und Magdeburg als Alternativen. In Magdeburg trainieren unter Bundestrainer Bernd Berkhahn zahlreiche Spitzenschwimmer, darunter drei Medaillengewinner aus Paris: Lukas Märtens, Oliver Klemet und Isabel Gose. Der Standort in Sachsen-Anhalt gilt daher als das Zentrum des deutschen Schwimmsports. In Würzburg hingegen trainieren kaum noch Top-Athleten.
Schwimm-Bundestrainer Bernd Berkhahn
Dennoch bestätigt das für Sportförderung zuständige Bundesinnenministerium (BMI) der ARD: Würzburg bleibt überraschend auch über 2024 hinaus Bundesstützpunkt. Der SV Würzburg 05 wird also weiterhin jährlich rund 90.000 Euro aus Steuermitteln erhalten. Der DSV begründet die Entscheidung für Würzburg mit "Förderparametern" sowie "Kapazitätsmangel" in Magdeburg - letztlich geht es auch um bürokratische Hemmnisse.
Standort Magdeburg fühlt sich übergangen
Der Magdeburger Bundestrainer Bernd Berkhahn kritisiert das Vorgehen. Der ARD sagte er: "Die Null-Toleranz-Politik des Präsidiums passt mit dieser Entscheidung, auch wegen Würzburgs Vorgeschichte, nicht zusammen." Und auch Sachsen-Anhalts Innenministerin Tamara Zieschang äußert ihr Unverständnis: "In Würzburg (…) sind derzeit keine leistungssportlichen Kaderstrukturen im Freiwasserschwimmen vorhanden. (…) Insofern ist die (noch) nicht erfolgte Verlagerung des Bundestützpunkts Freiwasser nach Magdeburg (...) bedauerlich." Der neue DSV-Präsident David Profit kündigte an, wegen Würzburgs Zukunft weiterhin mit dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und dem Bundesinnenministerium im Gespräch bleiben zu wollen.
"Wir haben gesagt, dass wir jetzt eine Denkpause für zwei Jahre bis zur nächsten Vergaberunde machen", erklärte er. Dass der Verbleib des Bundesstützpunkts und auch die Förderung des SV Würzburg 05 aus Steuermitteln aus Betroffenensicht negativ bewertet werde, könne er nachvollziehen. Wunsch und Wirklichkeit im DSV klaffen auseinander Ende November beschloss der DSV feierlich und einstimmig einen Leitantrag mit dem Titel "Recht auf sicheren Schwimmsport", der auf den Empfehlungen der Kommission basiert und durch die Schwimmvereine umgesetzt werden soll.
Und dennoch: Erkennbar ist, dass Wunsch und Wirklichkeit im Deutschen Schwimm-Verband weiterhin auseinanderklaffen. Ob "Leuchtturmprojekte", Kommissionsberichte oder Leitanträge - die Realität zeigt, dass sich der organisierte Sport trotz der besten Papiere und Absichten schwertut, bei Gewaltvorkommnissen angemessen zu intervenieren und sie aufzuarbeiten. Insofern dürfte die offizielle Einführung des "Safe Sport Codes" - ein neu geschaffenes Regelwerk der DOSB-Mitgliederverbände zum Umgang mit Gewalt - am vergangenen Samstag in Saarbrücken nur der Anfang eines langen Weges sein.