Halbfinale in Wimbledon Mamma mia, Switolina - ein Tennis-Märchen in vier Akten
Diesen Erfolg hat wahrscheinlich niemand für möglich gehalten: Elina Switolina steht beim Tennisturnier in Wimbledon im Halbfinale. Die besondere Geschichte ihres Siegeszugs.
Das Turnier in Wimbledon geht in die entscheidende Phase, doch ehe es um den Titel geht, dürfte schon jetzt feststehen, dass das Comeback von Elina Switolina die ganz große Geschichte dieser zwei Wochen ist. Am Donnerstag (13.07.2023) trifft die Ukrainerin im Halbfinale auf Marketa Vondrousova (Tschechien), könnte es erstmals beim Rasenklassiker ins Endspiel schaffen. Doch viel erwähnenswerter als das Ergebnis ist der Weg dorthin - es ist ein Tennis-Märchen in vier Akten.
Akt 1: Wildcard als junge Mutter
Im Oktober des vergangenen Jahres bekam Switolina mit ihrem Partner Gael Monfils, ebenfalls erfolgreicher Tennisprofi, ihr erstes Kind. Rund sieben Monate nach der Geburt von Skai feierte die 28-Jährige ihr Comeback auf der WTA-Tour, es war ein erwartet schwieriger Start mit vielen Niederlagen. "Ich hatte mich auf ein langes, schweres Comeback eingerichtet. Niemand hatte auf mich gewartet, niemand schenkt dir ja etwas", sagte Switolina damals.
Doch dann kam "Das Mamamärchen", wie es die französische Zeitung "L'Equipe" bezeichnete, bei den French Open, als die einstige Weltranglistendritte das Viertelfinale erreichte. "Ich bin jetzt schon überglücklich. Das ist wie ein einziger Traum, diese ganzen Siege", sagte sie. Nun ist sie sogar noch einen Schritt weiter - und ähnlich fassungslos. "Ich weiß nicht, was gerade in meinem Kopf passiert, es ist unglaublich", sagte sie nach dem Viertelfinalsieg gegen Iga Swiatek am Dienstag.
Dabei spielt Switolina in London nur aufgrund ihrer erfolgreichen Vergangenheit mit, sie erhielt von den Veranstaltern eine Wildcard. Andere Spielerinnen, die in der Weltrangliste so weit abgeschlagen sind, dürfen höchstens in der Qualifikation ran.
Akt 2: Zuschauerin bei Williams-Ärger, aber nicht bei Styles-Konzert
In der ersten Runde kam es dann zum Duell der eingeladenen Spielerinnen. Wie Switolina hatte auch ihre Auftaktgegnerin Venus Williams eine Wildcard erhalten - und die sorgte für Schlagzeilen. Im Laufe des ersten Satzes verletzte sich die 43-Jährige, wählte nach der 4:6, 3:6-Niederlage deutlich Worte über den Rasen von Wimbledon. "Ich weiß nicht, was ich da gemacht habe. Es tat jedenfalls sehr weh, das ist im Moment alles sehr schockierend", sagte Williams: "Ich war in so toller Form. Jetzt hat mich das Gras gekillt, das ist irgendwie bizarr."
Bizarr wurde es auch nach dem verwandelten Matchball von Switolina. Sie returnierte einen Williams-Aufschlag auf die Linie zu einem Winner, der Linienrichter sah den Ball jedoch im Aus - das "Hawk Eye" korrigierte die Einschätzung und die Schiedsrichterin gab darauf Switolina den Punkt, erklärte das Match für beendet. Williams erwartete jedoch eine Wiederholung des Punkts, verweigerte der Schiedsrichterin darauf den Handschlag.
Und Switolina? Die gewann auch die kommenden beiden Matches und musste deswegen umdisponieren. Im Vorfeld hatte sich das Tennis-Ass bereits Tickets für ein Konzert von Harry Styles in Wien besorgt - ihre starke erste Wimbledon-Woche verhinderte aber den Besuch. "Hey Leute. Ich hatte vor, zum Konzert meines Favoriten Harry Styles in Wien morgen zu gehen. Aber Wimbledon hat meine Pläne geändert. Will jemand hingehen? Ich habe zwei Tickets", schrieb Switolina auf Instagram.
Akt 3: Ein Sieg für die ganze Ukraine
Was dann aber folgte, war für sie deutlich besser als ein Konzert. "Das ist der zweitglücklichste Moment meines Lebens nach der Geburt meiner Tochter", sagte Switolina nach dem 2:6, 6:4, 7:6 im Achtelfinale gegen Victoria Asarenka. In gewisser Weise war es ein Duell des Krieges, die Ukrainerin Switolina gegen die Belarusin Asarenka. "Ich weiß, was dieser Moment für meine Leute in der Ukraine bedeutet. Es sind schwere Zeiten in der Ukraine, und ich kann hier spielen. Das ist unbeschreiblich", sagte die Siegerin.
Switolina verzichtete wie schon zuvor bei den French Open gegen Gegnerinnen aus Russland oder Belarus auf den obligatorischen Handschlag nach der Partie - und hatte eine klare Forderung an die Organisatoren. "Ich denke, sie müssen mit einem Statement an die Öffentlichkeit gehen, dass es keine Handshakes zwischen russischen, belarusischen und ukrainischen Spielern geben wird", sagte sie. Im vergangenen Jahr war es den Profis aus Russland und Belarus noch gänzlich untersagt, in Wimbledon anzutreten.
Die Freude über diesen fast schon sportpolitischen Erfolg überstrahlte aber alles. "Jeder Moment, der uns Ukrainern Freude bringt, hilft uns enorm", sagte Switolina und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten: "Ich habe an die vielen Menschen in der Heimat gedacht, die mich unterstützen. Die Ukraine macht schwierige Zeiten durch. Ich kann mich nicht beschweren, ich musste einfach kämpfen."
Akt 4: Sensation gegen eine "unglaubliche Person"
Swiatek ist eine Verbündete Switolinas, vor dem Turnier in Wimbledon hatte die Erste der WTA-Weltrangliste Anteil am Schicksal der ukrainischen Tennisprofis genommen. "Ich denke, es ist nicht leicht für die ukrainischen Spieler an Wettkämpfen auf der Tour teilzunehmen", sagte sie. Deshalb wolle sie sich "mehr darauf konzentrieren, ihnen zu helfen".
Entsprechend emotional war die Partie für Switolina gegen Swiatek. Es sei nicht einfach für sie gewesen gegen die Polin zu spielen, da sie sich seit Beginn des russischen Angriffskriegs für ihr Nachbarland einsetze: "Sie ist eine der Ersten gewesen, die den Menschen in der Ukraine geholfen hat. Sie ist nicht nur ein großartiger Champion, sondern auch eine unglaubliche Person."
So emotional das Spiel für Switolina war, so erfolgreich war es aber auch. Die junge Mutter besiegte Topfavoritin Swiatek in drei Sätzen und zog zum zweiten Mal nach 2019 in Wimbledon ins Halbfinale ein. Switolina hat nun die große Chance, Geschichte im Frauentennis zu schreiben. Noch nie hat eine Spielerin mit einer Wildcard das Turnier in Wimbledon gewonnen - bisher ist das lediglich Goran Ivanisevic bei den Männern gelungen. Es wäre der krönende Abschluss eines außergewöhnlichen Tennis-Märchens.