Schacholympiade Vishy Anand und der Aufstieg Indiens im Schach
Angeführt von WM-Herausforderer Dommaraju Gukesh trumpft Indien bei der Schacholympiade auf. Der Hauptgrund für Indiens Aufstieg ist Schachlegende Vishy Anand. Er ist Mentor und Förderer von Talenten, die sehr jung alles auf die Karte Schach setzen.
Besser könnte die Schacholympiade für Indien bisher nicht laufen. Sowohl die Männer als auch die Frauen haben sämtliche sechs Kämpfe bisher gewonnen und führen ihre Konkurrenz alleine an. Die Männer haben unter anderem bereits Europameister Serbien, Aserbaidschan und Ungarn geschlagen. Gukesh, 18 Jahre alt, hat am Spitzenbrett bisher vier Siege und ein Remis erzielt. Arjun Erigaisi, 20 Jahre, besiegte am dritten Brett bisher alle seine Gegner und könnte in den nächsten Runden die 2800 Elo-Marke knacken. Auch Praggnanandhaa, 19 Jahre, an Brett zwei und Vidit Gujrathi, 29 Jahre, an Brett vier punkten besser, als ihre ohnehin schon hohen Elozahlen erwarten lassen.
Das einzige nominell noch etwas stärkere Team der Vereinigten Staaten hat gegen die Ukraine verloren, schon drei Mannschaftspunkte abgegeben und müsste in den bis Sonntag ausstehenden fünf Runden wohl einen direkten Vergleich gegen Indien gewinnen, um noch für Gold in Frage zu kommen. Deutschland hat aufgrund peinlicher Niederlagen gegen Litauen und Montenegro nur noch mathematische Chancen auf einen Medaillenplatz, über den vor dem Turnier spekuliert worden war.
Gukesh beim Match gegen Ungarn bei der Schacholympiade
Gukesh verlässt als Zehnjähriger die Schule
Der Hauptgrund für Indiens Aufstieg im Schach heißt Vishy Anand. Der WM-Herausforderer von 1995 gewann ab 2000 fünf WM-Titel im klassischen Schach. Als einer der wenigen international erfolgreichen indischen Sportler sorgt er dafür, dass Schach in den Medien groß vorkam und sich Sponsoren für das Spiel interessierten. Nachdem er viele Jahre in der Nähe von Madrid und im hessischen Bad Soden lebte, um näher an den Turnieren und Ligen in Europa zu sein, kehrte er vor 14 Jahren in seine Heimatstadt Chennai zurück.
Anand bei einem Blitzschach-Turnier 2023 in Düsseldorf
Aus der Hauptstadt des südindischen Bundesstaats Tamil Nadu stammen die meisten der inzwischen 85 indischen Großmeister. Das beinhaltet auch die beiden großen Hoffnungsträger. Während Praggnanandhaa sich noch gelegentlich in der Schule blicken ließ und alle Prüfungen absolvierte, wurde Gukesh als Zehnjähriger vom Unterricht abgemeldet. Mit seinem Vater, der seine ärztliche Karriere dafür an den Nagel hängte, reiste er von Turnier zu Turnier, meist in Europa.
Schachakademie statt Schule
Die Bereitschaft, Bildung und Ersparnisse für eine Chance auf einen Aufstieg in die Schachweltspitze zu opfern, ist in der indischen Mittelschicht relativ verbreitet. Überall in Indien und ganz besonders in Chennai gibt es Schachakademien, an den schon Sechsjährige Eröffnungsvarianten büffeln und mit Grundwissen ausgestattet werden. Daraus erwachsen zahlreiche junge Kandidaten, deren Familien von Großmeistern im Sinne einer Schachkarriere beackert werden. Viele indische Profis sind nämlich schon mit Anfang oder Mitte zwanzig vom Spielen ins lukrativere Trainergeschäft gewechselt. Vishnu Prasanna, der Gukesh bis vor zwei Jahren trainierte, hat eigens für Kids, die nicht mehr zur Schule gehen und ausschließlich auf Schach setzen sollen, eine Akademie eröffnet.
Ein weiterer wichtiger Faktor hängt wiederum mit Anand zusammen. Vor fünf Jahren wurde er nach einer Werbeveranstaltung für eine Investmentfirma von deren Chef gefragt, was sie fürs Schach in Indien tun könne. Der Exweltmeister ließ sich drei Monate Zeit. Dann schickte er ein Konzept für Spitzen- und Einzelförderung durch erfahrene europäische Trainer. In der Westbridge Anand Chess Academy (WACA) ist es nahezu eins zu eins umgesetzt worden. Inzwischen lässt sich der Sponsor das etwa eine Million Euro jährlich kosten.
Gukesh gelingt Durchbruch bei WM-Kandidatenturnier
Der Erfolg ist schlagend: Seit zwei Jahren hat Gukesh den polnischen Großmeister Grzegorz Gajewski, Anands früheren WM-Sekundanten, exklusiv an seiner Seite und mit seinem Sensationssieg im Kandidatenturnier im April den Durchbruch zum jüngsten WM-Herausforderer geschafft. Auch einige junge Spielerinnen werden von WACA gefördert, allen voran Praggnanandhaas ältere Schwester Vaishali, die in Budapest bisher stark aufspielt und als künftige Weltmeisterin gesehen wird.
Anand selbst sieht sich in der Rolle als Mentor. Die WACA-Schüler lädt er gelegentlich zu sich nach Hause ein. Er sagt, dass er an einen indischen Kandidatenturniersieg geglaubt aber ihn erst in zwei Jahren erwartet habe. Am Montagabend ist er in Budapest eingetroffen, um den möglichen nächsten Meilenstein seiner Jungs persönlich mitzuerleben. Bisher hat es bei Schacholympiaden für Indien erst zu einem dritten Platz bei den Frauen und zwei dritten Plätzen bei den Männern gereicht, wobei der 2022, als sie südlich von Chennai in Mahabalipuram ausgetragen wurde, nicht vom A-Team errungen wurde sondern vom B-Team, das Indien als Ausrichter zustand und damals mit Gukesh und Praggnanandhaa antrat.
Anand (M.) 2023 mit Gukesh (l.) und Praggnanandhaa
Millionen für Schnellschach-Liga
Der indische Schachverband war lange notorisch zerstritten und sportlich eher ein bremsender Faktor, zieht aber inzwischen mit WACA an einem Strang. Den drei WM-Kandidaten und zwei WM-Kandidatinnen stellte der Verband vor dem Turnier im April Budgets in umgerechnet sechsstelliger Höhe zur Verfügung, um sich optimal vorbereiten und von Trainern begleiten lassen zu können. Insbesondere in Tamil Nadu wird das Spitzenschach auch großzügig von der Regierung alimentiert. Wie viel Geld im indischen Schach mittlerweile im Spiel ist, zeigt ein Projekt der IT-Firma Tech Mahindra: Sie steckt Millionen in eine "Global Chess League", die voriges Jahr in Dubai stattfand und deren zweite Saison ab 3. Oktober in London ausgespielt wird. Sechs Teams treten mit den besten männlichen und weiblichen Profis weltweit, außerdem jeweils einem jungen Talent im Schnellschach gegeneinander an.
Gukesh spielt in Singapur um WM-Titel
Um die Ausrichtung von Gukeshs WM-Kampf gegen den zuletzt ausgebrannt wirkenden Ding Liren bewarben sich Delhi und Chennai. Der Weltschachbund hat den Zuschlag aber Singapur gegeben, wo die Asienzentrale von Google als Hauptsponsor auftritt. Im Schach war es schon öfter ein Nachteil, im eigenen Land zu spielen, wie Anand am eigenen Leib erfahren hat.
Nicht nur 2013, als er in Chennai den WM-Titel an Magnus Carlsen verlor, konzentrierte sich das Interesse der Medien auf ihn sondern auch bei seinen ersten Anläufen. 1994 spielte er in dem Industriestädtchen Sanghi Nagar ein Kandidatenmatch. Beim Stand von 4:2 brauchte er damals nur noch ein Remis. Von seinen Landsleuten vorzeitig als Sieger gefeiert und belagert, verlor er zweimal und dann auch die Verlängerung gegen den Amerikaner Gata Kamsky. So dürfte Gukesh nicht böse sein, dass er ab 20. November auf neutralem Boden in Singapur die Chance hat, den WM-Titel zurück nach Indien zu holen.