Turnerinnen und Eltern beklagen Missstände Schwere Vorwürfe jetzt auch am Turnstützpunkt Mannheim
Nach den veröffentlichten Missständen am Kunstturnforum Stuttgart werden Vorwürfe über ähnliche Verhältnisse am Turn-Stützpunkt Mannheim laut. Im Zentrum der Kritik: Die langjährige Leiterin und heutige Nachwuchs-Bundestrainerin Claudia Schunk.
Sie sind jung, 19 oder 20 Jahre. Die jungen Frauen erzählen uns von seelischen Narben und körperlichen Beeinträchtigungen. Davon, dass ihr Selbstwertgefühl angeknackst sei oder dass sie ihr Wunschstudium nicht antreten können, weil der Körper zu lädiert ist.
Als kleine Mädchen liebten sie das Turnen. Sie träumten von Erfolgen, Medaillen und den Olympischen Spielen. Sie waren talentiert und wechselten im Grundschul-Alter von ihren Heimatvereinen ans Leistungszentrum Mannheim. Doch die Zeit dort veränderte ihr Leben.
Claudia Schunk - die starke Frau im deutschen Turnen
Jetzt, nachdem Spitzenturnerinnen wie Tabea Alt, Michelle Timm, Janine Berger oder Meolie Jauch vor wenigen Wochen mutig über die jahrelangen Missstände im deutschen Turnsystem sprachen, brechen auch diese Frauen ihr Schweigen. Im Mittelpunkt ihrer Kritik steht Claudia Schunk (52), die langjährige Leiterin des Mannheimer Leistungszentrum Turnen.
Gut zehn Jahre, von 2006 bis 2017, hatte Schunk dort das sportliche Sagen. Die ehrgeizige und erfolgshungrige Trainerin führte Deutschlands Rekordturnerin Elisabeth Seitz in die Weltspitze.
Im April 2017 ging Schunk ihren nächsten Karriereschritt. Sie wurde Bundestrainerin für den weiblichen Turn-Nachwuchs. Seit Ex-Bundestrainerin Ulla Koch ihr Amt als Vize-Präsidentin des Deutschen Turner-Bunds (DTB) ruhen lässt, ist Schunk die starke Frau im deutschen Turnen. Als kürzlich am Stützpunkt in Stuttgart zwei Trainer freigestellt wurden, sprang Schunk - gemeinsam mit Bundestrainer Gerben Wiersma - in die Bresche und half aus.
Doch das Bild einer stets hilfsbereiten, empathischen Trainerin scheint zu trügen. Die ehemaligen Turnerinnen berichten SWR Sport von teils harschen Trainingsmethoden in Mannheim unter der Leitung Schunks. Sie erzählen von der Verharmlosung von Schmerzen und Verletzungen, von verbalen Attacken und von Bestrafungen.
Ein schwerer Turnunfall und die Folgen
Zoé Meißner galt als großes Turntalent. Mit fünf Jahren kam sie nach Mannheim - voller kindlicher Vorfreude: "Ich habe gern geturnt. Es war meine Leidenschaft. Irgendwann zu Olympia zu gehen, war mein Traum." Der Wechsel von ihrem Heimatverein an den Bundesstützpunkt war "eine komplette Umstellung". Ihr Talent und ihre Disziplin brachten die junge Turnerin zunächst auf die Erfolgsspur. Zoé Meißner wurde zweimalige deutsche Jugendmeisterin - am Sprung und am Boden.
Das Training war hart, mehrere Stunden täglich. Die Einheiten im Leistungszentrum fanden teilweise hinter verschlossenen Türen statt. Für die Eltern hieß es oft: Wir müssen draußen bleiben. Yvonne Meißner, Zoés Mutter, erinnert sich: "Man kriegt immer mitgeteilt, dass man nicht drei, vier Stunden beim Training zuschauen soll. Die wollen, dass die Türen und Rolladen zu sind. Damit man nicht alles mitkriegt, was in der Halle abläuft."
"Einfach Horror"
Im November 2016 fuhr die damals elfjährige Zoé mit ihrer Heimtrainerin Claudia Schunk zum DTB-Kadertest nach Halle/Saale. Beim Training passierte es. Bei einer Bodenübung verletzte sie sich bei der Landung an beiden Beinen. Sie hatte starke Schmerzen. Yvonne Meißner sagt, ihre Tochter habe dennoch weitertrainieren müssen: "Claudia Schunk hat sie trotz Verletzung noch mal auf den Balken geschickt."
Für Zoé war diese Erfahrung, "dass ich mit geschwollenen, dicken Füßen trotzdem weiter turnen musste, obwohl ich nicht mehr laufen konnte, einfach Horror."
Ich musste von anderen Turnerinnen zum Buffet getragen werden, damit ich überhaupt was zu essen bekam. Es interessierte keinen. Zoé Meißner, ehemalige Turnerin
Wir fragen bei Claudia Schunk nach. Sie antwortet uns schriftlich: "Zoe Meißner hatte sich bei einem Training vor dem Kadertest verletzt. Aufgrund dieser Verletzung haben wir Trainer sie bei dem anstehenden Kadertest nicht starten lassen."
Schunk bestätigt, dass "wir nicht unmittelbar ins Krankenhaus gefahren sind". Wir stellen weitere Fragen: Warum musste Zoé trotz Verletzung zunächst weitertrainieren? Wie hat sich Schunk um Zoé vor Ort gekümmert? Warum wurde Zoé vor Ort nicht zu einem Arzt gebracht? Auf diese Fragen antwortet die Trainerin nicht.
Yvonne Meißner ist noch heute, acht Jahre später, sichtlich bewegt, wenn sie über den Vorfall von Halle spricht. Erst am Montag, nach der Rückkehr nach Mannheim, sei man gemeinsam mit Schunk zu einem Facharzt gegangen. Die Diagnose: Ein Fuß war stark verstaucht, Zoés anderer Fuß war gebrochen. Schunk fügt ihrer Antwort hinzu: "Wir nehmen ärztliche Diagnosen sehr ernst."
Das Vertrauen zwischen Zoè, den Eltern und Claudia Schunk war durch dieses Erlebnis nachhaltig gestört. Die Meißners zogen die Reißleine. Viel zu früh, mit 13, endete Zoés hoffnungsvolle Turnkarriere.
Claudia Schunk führte Elisabeth Seitz in die Weltklasse
Claudia Schunk genießt im deutschen Turnsport eine hohe Wertschätzung. Sie machte Mannheim zum erfolgreichsten deutschen Nachwuchszentrum Turnen. Sie formte Deutschlands Rekordturnerin Elisabeth Seitz zur Weltklasse-Turnerin. Nach den Olympischen Spielen 2012 in London empfahl Schunk der Spitzenturnerin, ihre Karriere zu beenden. Seitz war völlig perplex. Sie verließ Mannheim in Richtung Stuttgart.
Elisabeth Seitz (l.) und Ex-Trainerin Claudia Schunk (2011)
Zu dieser Zeit begann Naomi Schachner mit dem Turnen in Mannheim. Sie war acht Jahre, als sie in die Trainingsgruppe von Claudia Schunk aufgenommen wurde. Sie erzählt davon, dass es zu Beginn noch Spaß gemacht habe, aber dann seien die Trainingsmethoden autoritärer geworden. "Wenn es darum ging, etwas Neues zu lernen, wo ich vielleicht Angst hatte, wurde ich gezwungen, solange an diesem Gerät zu bleiben, bis ich das Element auch machte. Ich trainierte mir teilweise die Hände blutig." Schaffte Naomi das Element nicht, sei sie schreiend aus der Halle geworfen oder mit Ignoranz bestraft worden.
Naomi Schachner leidet noch viele Jahre später an den Folgen
Claudia Schunk antwortet uns grundsätzlich zum Thema Strafen. In ihrer Erinnerung habe sie nie Strafen gegen Turnerinnen verhängt, die sich ein Element nicht getraut hätten. Sie ergänzt: "Dabei möchte ich nicht ausschließen, dass ich in der Vergangenheit versucht habe, nachdrücklicher (…) auf die Turnerin einzuwirken."
Nach zwei Jahren unter Claudia Schunk beendete Naomi als zehnjährige das Turnen in Mannheim. Noch heute, mit 20, leide sie an den Folgen. "Meine Leistung nehme ich selbst als nie gut genug wahr." Leise fügt sie hinzu:
Ich habe noch oft das Gefühl, dass ich nicht gut genug bin, so wie ich bin. Naomi Schachner, ehemalige Turnerin
Eine weitere Turnerin, die in Mannheim als Kaderathletin trainierte, möchte anonym bleiben. Ihr Name ist der Redaktion bekannt. Sie ist heute eine junge Frau. Mit sechs kam sie ins Leistungszentrum. Das Mädchen spürte schnell, wie das System dort funktioniert habe. "Mir wurde gesagt, ich sei zu schwer und müsse abnehmen. Es hieß, ihr braucht einen Ernährungsplan. Dann haben wir Ernährungspläne gekriegt, die völlig absurd waren." Süßigkeiten seien den Kindern verboten worden.
Wenn kleine Turnerinnen ihre Siegprämie teilen müssen
Claudia Schunk widerspricht. Ernährungspläne seien durch sie zu keinem Zeitpunkt an Turnerinnen oder Eltern erstellt und/oder ausgehändigt worden. "Nahrungsmittelverbote gab es ebenfalls keine. (…) In der Vergangenheit wurden in Mannheim die Turnerinnen einmal pro Monat gewogen und gemessen." Das Körpergewicht, betont Schunk, sei im Turnen sowohl im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit sowie die Verletzungsprophylaxe in jedem Alter ein relevanter Faktor.
Die Turnerin empfand die Beschäftigung mit dem Thema Gewicht als belastend. Auch andere Maßnahmen hätten sie irritiert, erzählt sie. Mädchen, die bei Wettkämpfen erfolgreich waren, mussten in Mannheim Teile ihrer ohnehin geringen Siegprämien an die Trainerinnen abgeben. "Ich gewann einmal zehn Euro", erzählt die ehemalige Sportlerin, "und musste davon die Hälfte an meine direkte Trainerin abgeben. Sie hatte mir schließlich geholfen, diesen Erfolg zu erzielen."
Claudia Schunk findet das nicht ungewöhnlich. In Mannheim habe es eine sogenannte "Ausbildungsrückführung" gegeben. Dadurch sei ein kleiner Teil möglicher Prämien an das Zentrum weitergeleitet worden. "Diese Zahlungen kamen ausschließlich den Turnerinnen (…) zu Gute, nicht den dort tätigen Trainern", betont Schunk.
Das Unwohlsein der jungen Turnerin und ihrer Eltern wuchs. Diese machten Schunk gegenüber deutlich, sie seien nicht damit einverstanden, wie mit ihrer Tochter in Mannheim umgegangen werde. Die Mutter, die auch anonym bleiben möchte, sagt zu SWR Sport:
Die Atmosphäre in Mannheim war sehr kühl und distanziert, überhaupt nicht herzlich den Kindern gegenüber. Sie waren wie Arbeitstiere. Mutter einer ehemaligen Turnerin
Weiter sagt sie: "Das Kind hatte zu funktionieren und Leistung zu bringen. Und von zu Hause aus sollte man noch Druck draufsetzen, damit das auch alles so funktioniert, wie sie es gerne hätten."
Ging Claudia Schunk für den Erfolg über Grenzen?
Nach zwei Jahren Turnen in Mannheim war für die Eltern das Fass übergelaufen. Um ihre Tochter zu schützen, zogen sie Konsequenzen. Nach einem letzten Gespräch meldeten sie ihr Kind in Mannheim ab.
Claudia Schunk, die erfolgshungrige Turn-Trainerin. Ging sie für den Erfolg über Grenzen? Hat sie Maßnahmen angewiesen, umgesetzt oder geduldet, die den jungen Turnerinnen geschadet haben? Aktuell ist sie als Bundestrainerin des weiblichen Nachwuches die starke Frau im deutschen Turnen. Schunk sagt über ihre Arbeit:
Die Gesundheit der Turnerinnen muss immer an erster Stelle stehen, bezogen auf sämtliche Trainingsumstände. Claudia Schunk, Bundestrainerin Nachwuchs weiblich
Zoé Meißner erlebte das anders. Die Zeit in Mannheim hat ihren Körper lädiert. Die 20-Jährige leidet regelmäßig an Schmerzen, sie hat nach ihren vielen Verletzungen bleibende Schäden. Nach dem Turnen probierte sie es mit anderen Sportarten: Badminton oder Tanzen. Doch das ging nicht. Zu groß waren ihre Schmerzen an den Füßen, Ellbogen oder im Rücken.
Zu starke Schmerzen: Der Berufswunsch Sportlehrerin bleibt ein Traum
Eigentlich wollte Zoé Meißner auf Lehramt studieren und später Sportunterricht geben. Aber diesen Berufswunsch kann sie sich nicht erfüllen, da sie nicht einmal mehr den Schulsport uneingeschränkt unterrichten könnte. Mutter Yvonne Meißner bedrückt das: "Trotz Operationen, trotz Pause und trotz wöchentlicher Physiotherapie wird es bei Zoé einfach nicht so wie bei einem Mädchen oder einer Frau, die diese Verletzungen nicht erlitten hat."
Wir fragen noch einmal bei Claudia Schunk nach. Was es mit ihr macht, wenn einige ihrer ehemaligen Turnerinnen noch nach Jahren unter körperlichen oder seelischen Beschwerden leiden? Sie antwortet, "dass es nie meine Absicht war, die Turnerinnen zu belasten und dass, sollten meine Verhaltensweisen gleichwohl so wahrgenommen worden sein, mir dies leidtut".
Der Deutsche Turner-Bund hat kürzlich eine Untersuchung der Missstände in Stuttgart eingeleitet. Der Verband sollte seinen Blick auch nach Mannheim richten.