Michelle Timm im Interview mit SWR Sport

Exklusives Interview Ex-Turnerin Michelle Timm: "Der Fehler liegt im System"

Stand: 05.01.2025 10:13 Uhr

Michelle Timm ist eine von vielen Turnerinnen, die Missstände am Bundesstützpunkt Stuttgart öffentlich kritisiert hat. Im Gespräch mit SWR Sport schildert die 27-Jährige ihre Erfahrungen und plädiert für Änderungen im System.

Zahlreiche aktive und ehemalige Turnerinnen haben über die Sozialen Medien öffentlich gemacht, dass es am Turn-Bundesstützpunkt in Stuttgart Missbrauch gegeben habe. Einer der Sportlerinnen war Michelle Timm. Gegenüber SWR Sport sprach die Ex-Turnerin über das, was sie erlebt hat und darüber, warum der Fehler im System liegt.

Turnerinnen zu Missbrauchsvorwürfen

SWR Sport: Sie waren selbst Turnerin, sind jetzt Trainerin in Stuttgart und haben via Instagram die Umstände am Bundesstützpunkt in Stuttgart deutlich kritisiert. Wie haben Sie die vergangenen Wochen und Monate wahrgenommen?
Michelle Timm: Ich bin als Trainerin in Stuttgart vor Ort und mache selbst noch Sport, wenn auch nicht mehr auf dem Niveau wie früher. Seit ein, zwei Jahren sind immer wieder Sachen aufgefallen, in den letzten Monaten dann vermehrt schlimme Sachen. Es waren dann viele Leute, die mitbekommen haben, dass da einiges schief läuft.

Michelle Timm: "Das geht für mich über die Grenze hinaus"

Was genau war das Fehlverhalten, das Sie beobachtet haben?
Wir alle wissen, dass Leistungssport hart ist und dass es dazugehört, an die Grenzen oder darüber hinaus zu gehen. Und dass das freiwillig so sein muss. Allerdings müssen die Erwachsenen gerade bei Kindern gucken, dass alles noch im Rahmen ist. Wenn man dann sieht, dass Mädchen der Halle verwiesen werden, dass sie weinend in den Umkleidekabinen sitzen und noch unschöne Sachen hinterhergerufen bekommen, dann geht das für mich persönlich nicht. Die Kinder komplett der Halle zu verweisen geht für mich schon aufgrund der Aufsichtspflicht nicht.

Natürlich ist der Umgangston ab und zu mal rau, das ist völlig okay, aber nicht in diesem Ausmaß. Wenn man dann noch hört, was die Mädchen gesagt bekommen und dass überhaupt nicht darauf eingegangen wird, wie sie sich fühlen oder was körperlich überhaupt noch möglich ist, dann geht das für mich über die Grenze hinaus und ist nicht mehr in Ordnung.

Was sind für Sie die Grundprobleme in diesem System?
Das ist für Außenstehende oft schwer zu verstehen. Die meisten von uns haben mit drei, vier Jahren angefangen, da hat man einen engen emotionalen Bezug zu den Personen im Turnen, mit denen man einen Großteil seines Lebens verbringt. Wir haben mit diesen Trainern teilweise mehr Zeit verbracht als mit unseren eigenen Eltern. Dadurch ergibt sich eine enorme Abhängigkeit, die man Außenstehenden nur schwer erklären kann. Viele wissen, dass Turnen ein harter Sport ist, in dem es früh intensiv zur Sache geht. Trotzdem: Wenn es die Zeichen gibt, dass jemand körperlich oder mental nicht mehr kann, dass jemand die ganze Zeit weint, dann ist das für mich etwas, wo jeder sieht, dass etwas nicht stimmt.

Was hat Sie motiviert, sich an die Öffentlichkeit zu wenden?
Jetzt war es einfach so, dass von so vielen verschiedenen Stellen Anmerkungen gekommen sind, dass ich mir gedacht habe: Jetzt ist vielleicht die einzige Möglichkeit, noch etwas zu machen. Es geht dabei nicht um mich, theoretisch hätte ich mich auch raushalten können, weil ich nicht mehr aktiv in der Halle bin und auch mit diesen Trainern nichts zu tun habe. Aber wenn ich verhindern kann, dass noch einmal jemand das erleben muss, was wir erlebt haben, dann stelle ich mich, um den Mädchen diese Erfahrung zu ersparen.

Michelle Timm: Deswegen habe ich mich an die Öffentlichkeit gewandt

Was ich auch sagen muss: Ich komme nicht aus Stuttgart, sondern bin in Berlin groß geworden. Ich habe diese Sachen trotzdem erlebt. Das zeigt ja erst recht, dass dieser Fehler im System liegt. Das muss grundlegend aufgearbeitet werden, nicht nur in Stuttgart. Auch wenn ich hier aktuell die Missstände beobachtet habe, auch über mehrere Jahre hinweg, und ich einfach sehe, wie die Mädchen daran kaputtgehen. Beim Bundesliga-Finale sind die Mädchen für Stuttgart gestartet und es sah dort einfach nichts nach Spaß und Freude aus. Es gab auch kein Teamgefühl, jede hat nur ihren Job gemacht. Und wenn dann jeder auf einen zukommt und sagt: 'Was ist denn da eigentlich bei euch in Stuttgart los, die Mädchen sehen nicht gut aus' - dann ermutigt das einen, sich nochmal mit dahin zu stellen. Das war auch der Grund, warum ich mich an den DTB gewendet habe. Das war Mitte/Ende Oktober, darauf habe ich auch eine Antwort bekommen.

Wie ging es dann für Sie weiter?
Man hat sich sehr schnell bei mir gemeldet, das hat mich positiv überrascht. Es kam dann auch rasch zu einem Telefongespräch, wo meine Feststellungen mit Entsetzen zur Kenntnis genommen worden sind. Mir wurde dann versichert, dass man sich kümmert. Ich weiß, dass dann Gespräche geführt worden sind, allerdings konnte ich in der Folge keine Konsequenzen erkennen.

Hat das dann dazu geführt, dass Sie sich vor kurzem mit einem Social-Media-Post an die Öffentlichkeit gewandt haben?
Die Öffentlichkeit war nicht unsere erste Wahl, sonst hätten wir das ja als ersten Schritt gemacht. Wir haben uns zuvor an verschiedenste Positionen gewendet und haben versucht, das ohne Medien zu lösen. Es ist für uns im Endeffekt der letzte Ausweg gewesen. Das jetzt nach und nach verschiedenste Meldungen kamen, hat sich einfach so ergeben. Sicher hat das auch mehrere Athletinnen dazu gebracht, sich zu öffnen und ihre Geschichte zu erzählen. Und wenn das hilft, das System jetzt zu ändern, dann nutzen wir das gerne in der Hoffnung, dass sich etwas tut.

Sie sind Trainerin, Sie sind beim Schwäbischen Tuner-Bund angestellt, Sie sind Teil des Systems. Wieviel Mut hat ihr öffentliches Statement erfordert?
Dass ich Teil des Systems bin, war für mich Grund für dieses Statement. Wir versuchen ja nicht, diesen Sport niederzumachen, sondern wir alle wollen diesen Sport zu einem besseren Ort für alle machen. Meine und unsere Geschichte kann man nicht mehr aufarbeiten oder ändern. Mir geht es darum, denen zu helfen, die da jetzt drinstecken. Es geht darum, den Weg für junge Turnerinnen und Turner besser und leichter zu machen.

DTB und STB haben in einem gemeinsamen Statement angegeben, dass die Aufarbeitung laufe und bestimmte Prozesse in die Wege geleitet worden seien. Wie bewerten Sie das?
Ich habe ja Gespräche mitbekommen und dass einzelne Trainer Auflagen bekommen haben. Zudem wurden verschiedene Maßnahmen wie Protokolle eingeführt. Aber letztendlich reicht das einfach nicht. Die Konsequenzen, die da passiert sein sollen, sind meiner Meinung nach nicht nachvollziehbar.

Bundestrainer Gerben Wiersma und Nachwuchsbundestrainerin Claudia Schunk sollen ab dem 7. Januar in Stuttgart Trainingseinsätze übernehmen. Halten Sie das für sinnvoll?
Dass das Training anderweitig organisiert wird und die Leute, die wir angesprochen haben, erstmal da rausgenommen werden, halte ich auf jeden Fall für sinnvoll. Das wäre für mich die erste logische Konsequenz gewesen. Allerdings halte ich es in unserem System für schwierig, dass Leute, die an anderer Stelle schon mal angezählt worden sind, in neuen, teilweise stärkeren Positionen wieder auftauchen. Das ist ein großer Fehler.

Michelle Timm: "Wir wollen grundlegend das System ändern"

Viele Turnerinnen hören mit 13, 14 Jahren auf. Wie bewerten Sie das?
Grundsätzlich ist es so, dass Turnerinnen ihren Leistungshöhepunkt sehr früh haben. Aber man kann auch als Frau im Turnen älter werden. Trotzdem ist es gerade bei uns so, dass viele Mädchen früh aufhören, weil es einfach körperlich und mental nicht mehr geht. Und da ist rückblickend auffällig, dass viele von ihnen in der gleichen Trainingsumgebung gelandet sind.

Viele hören dann auch mit 16, 17 oder 18 Jahren auf, weil es körperlich nicht mehr geht. Und auch das kann man nicht unterstützen. Deshalb wollen wir grundlegend das System ändern. Mann kann den Sport nämlich ganz grundsätzlich bis 30 Jahre machen.

Sendung am Sa., 4.1.2025 14:00 Uhr, Stadion, SWR1