Missstände im Turnen Druck auf Turn-Verband in Stuttgart wächst
Nach den Vorwürfen von Leistungsturnerinnen gegen Verantwortliche am Kunst-Turn-Forum in Stuttgart denkt Sportministerin Schopper über mögliche finanzielle und personelle Konsequenzen nach.
Am Eingang des Olympiastützpunkts (OSP) Stuttgart hängen große, bunte Plakate. Jedem, der die Trainingshalle betritt, stechen sie ins Auge. "Es ist -doch- NICHT nur eine Berührung“. Oder: "Es sind -doch- NICHT nur Worte." Darunter steht: "Wir schauen hin. Wir hören zu. Wir sprechen an." Diese Plakate sind Mahnungen, auf einen respektvollen, wertschätzenden Umgang zu achten.
Plakate gegen Missbrauch am OSP Stuttgart
Einen Steinwurf entfernt liegt das Kunst-Turn-Forum des Schwäbischen Turner-Bunds (STB). Es ist zugleich Bundesstützpunkt der deutschen Turnerinnen und Turner. Seit den öffentlich gemachten Vorwürfen von Demütigungen, Drohungen und Erniedrigungen sind die Türen für die Medien verschlossen. Fernsehkameras, sonst herzlich willkommen, um die Turnerinnen und Turner in ein gutes Licht zu rücken, sind aktuell unerwünscht. Die Persönlichkeitsrechte der aktiven Sportlerinnen sollen geschützt werden, heißt es dazu offiziell vom Verband.
Verantwortliche im Turn-Verband abgetaucht
Transparenz? Fehlanzeige. Offensiver Umgang angesichts schwerwiegender Vorwürfe? Eher Wagenburgmentalität. Ein STB-Verantwortlicher, der vor Kameras oder Mikrofonen Stellung bezieht? Alle abgetaucht. Die Akteure im und rund um das Kunst-Turn-Forum bilden eine geschlossene Gesellschaft.
Auf Anfrage des SWR, wann der STB von den Vorwürfen der Turnerinnen erfahren habe, teilt der Verband immerhin schriftlich mit, dass sich zum einen "im April 2021 Tabea Alt auch an Vertreter des STB" gewandt habe, und ergänzt: "Zwei weitere offizielle Meldungen an unsere Anlaufstellen gab es im Herbst 2024."
Hinweise zum Kunst-Turn-Forum gab es bereits vor Sommer 2024
Herbst 2024? Wir sprechen mit Uli Derad. Er ist Hauptgeschäftsführer des Landessportverbands Baden-Württemberg (LSVBW). Der LSVBW ist Träger der Olympiastützpunkte im Land. Derads Version klingt anders als die des STB: "Wir haben von den Missständen über unseren Olympiastützpunkt bereits im Frühjahr/Sommer 2024 erfahren." Also schon vor den Olympischen Spielen in Paris.
Nach SWR-Informationen haben sich offenbar nicht nur aktive Turnerinnen an die Vertrauenspersonen am OSP gewandt, auch Physiotherapeuten und Ärzte hätten Gespräche gesucht. Selbst junge männliche Turner sollen ihr Entsetzen zum Ausdruck gebracht haben, welche fragwürdigen Umgangsformen bei den Turnerinnen herrschten.
Der OSP nahm die Vorwürfe ernst, intervenierte sofort und teilte die Vorgänge den Verantwortlichen am Bundesstützpunkt Turnen mit. Es verging eine Weile, bis es endlich erste Gespräche zwischen dem LSVBW, dem OSP und dem STB gab. "Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es weitergehen muss: Wie handeln wir? Welche Maßnahmen ergreifen wir?“, sagt Derad.
Sportministerin Schopper: "Mir ist der Schrecken in die Glieder gefahren"
Der LSVBW weiß das Ministerium Kultus, Jugend und Sport auf seiner Seite. Das von Theresa Schopper (Grüne) geleitete Ministerium will im Jahr 2025 über den LSVBW insgesamt gut 1,6 Millionen Euro an den Turnsport im Land auszuzahlen.
Die Ministerin zeigt sich von den jüngsten Vorwürfen und Anschuldigungen der Leistungsturnerinnen erschüttert. "Mir ist der Schrecken in die Glieder gefahren", sagt sie im Interview mit SWR Sport. "Die Vorwürfe bestehen schon seit langer Zeit, und die interne Aufarbeitung hat nicht den anvisierten Erfolg gezeigt."
Mit der Inanspruchnahme von Landesmitteln zur Finanzierung von Leistungssportpersonal ist die Verpflichtung verbunden, das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu respektieren sowie jegliche Form von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt zu unterbinden. Wenn Sportorganisationen gegen diesen Grundsatz verstoßen, kann das womöglich finanzielle Konsequenzen haben. "Wir müssen schauen, wie das Geld verwendet wird und wie die Aufklärung betrieben wird," warnt Schopper mit Blickrichtung STB.
Einfrieren von Geldern an Turn-Verband als Druckmittel?
Als Ultima Ratio wäre sogar das Einfrieren von Fördermitteln möglich. "Geld ist natürlich das größte Druckmittel", sagt die Ministerin. "Es ist aber nicht so, dass wir das Geld zum 1. Januar überweisen und jetzt sagen: Da gehen wir auf Stopp." Es seien vereinbarte Zahlungen, die über den LSVBW an die einzelnen Sportfachverbände gingen. "Deshalb müssen wir das noch mal genauer prüfen."
Das Zurückhalten von Fördermitteln sieht auch LSV-Hauptgeschäftsführer Derad als Option: "Eine Einschränkung der Zuwendung wäre denkbar und möglich", sagt er. Mit jeder finanziellen Zuwendung werde ein Bewilligungsbescheid erteilt. "In diesem Bewilligungsbescheid sind auch Fördervoraussetzungen drin. Da steht unmissverständlich drin, die Unversehrtheit der Beteiligten ist zu gewährleisten."
Auch die Stadt Stuttgart fördert Veranstaltungen und Projekte im Turnen. Der jährlich ausgetragene DTB-Pokal wurde 2024 mit 150.000 Euro bezuschusst, der Bau der neuen Trampolinhalle wird mit insgesamt 1,9 Millionen Euro gefördert. Eine Streichung von Fördermitteln, teilt die Stadt auf SWR-Anfrage mit, hält sie allerdings "weder für eine nachhaltige Verbesserung des Systems zielführend noch für die talentierten Nachwuchs- und Leistungssportlerinnen und -sportler motivierend."
Schopper: "Schwierig, personell weiterhin auf die gleichen Pferde zu setzen"
Ministerium, LSVBW und Stadt: Sie alle sind sich einig, dass die bekannt gewordenen Missstände im gesamten Turnsport, insbesondere aber am Kunst-Turn-Forum in Stuttgart gründlich aufgearbeitet werden müssen. Und zwar nicht nur innerhalb des Turnsystems. "Ich glaube nicht, dass wir das nur mit einer internen Aufklärung hinbekommen", sagt Sportministerin Schopper. Dies sei schon versucht worden, dennoch hätten sich die Umstände nicht grundlegend geändert. "Deshalb ist eine externe Aufklärung angesagt."
Diese fordert auch UIi Derad. "Es gilt, einen konkreten Maßnahmenplan vorzulegen und anschließend die Umsetzung zu kontrollieren. Da wollen wir als LSVBW mit einbezogen sein." Das verlangt auch das Ministerium. Die Arbeit des STB steht also unter genauer Beobachtung.
Ministerin Schopper schließt auch personelle Konsequenzen für die Verantwortlichen im Verband nicht aus. Nachdem sich das System nach der internen Aufarbeitung nicht geändert habe, "ist es wahrscheinlich ein schwieriges Unterfangen, personell weiterhin auf die gleichen Pferde zu setzen".
Derad für "Gewaltenteilung"
Generell müsse man sich Gedanken machen, wie eine Atmosphäre des Vertrauens wiederhergestellt werden könne. Derads Vorschlag: "Wir brauchen eine Gewaltenteilung. Es ist einfacher für Athleten und auch für Trainer - Stichwort Nominierungsdruck oder Sorge um den Arbeitsplatz - sich an Personen zu wenden, die außerhalb des Sportartensystems sind."
Am Olympiastützpunkt sei deshalb - neben den zwei bereits vorhandenen Vertrauenspersonen - eine 50 Prozent-Stelle "Athletenmanagement" eingerichtet worden. Seit Dezember 2024 wird sie von Pamela Dutkiewicz-Emmerich, WM-Bronze-Gewinnerin über 100 Meter Hürden 2017, bekleidet. Die ehemalige Weltklasse-Leichtathletin (33) hat eine Ausbildung als Systemischer Coach.
Wir können leider nicht mehr ändern, was passiert ist. Aber wir können verdammt nochmal besser werden. Uli Derad, Hauptgeschäftsführer LSVBW
Am 23. Januar wird es ein wichtiges Treffen im Ministerium geben - unter anderem mit Vertretern des Schwäbischen Turner-Bundes und des Landessportverbands. Theresa Schopper kündigt schon jetzt an: "Wir haben sehr viele Fragen. Und wir wollen genaue Antworten."
Sendung am Do., 16.1.2025 18:40 Uhr, SWR1 Baden-Württemberg