Mein Sportmoment 2024 Darja Varfolomeev bei Olympia - Triumph, Tränen und Trösten
Darja Varfolomeev hat bei den Olympischen Spielen in Paris mit ihrer Goldmedaille Geschichte geschrieben. Im Moment ihres Triumphes ist die 17-Jährige für ihre weinende Teamkollegin da. Für SWR-Sport-Reporterin Regina Saur ihr Sportmoment des Jahres 2024.
Was für eine Geste, was für ein Moment: Mehr als 8.000 Fans in der Arena de la Chapelle in Paris toben vor Begeisterung. Darja Varfolomeev präsentiert im olympischen Finale einen Mehrkampf in Perfektion und krönt sich zur unumstrittenen Gymnastik-Königin. Als der Hallensprecher die erste deutsche Olympiasiegerin in der Rhythmischen Sportgymnastik feiern will, hat die aber gerade Wichtigeres zu tun, als zu jubeln. Dascha, wie sie genannt wird, tröstet erstmal ihre Trainingskameradin Margarita Kolosov.
Im Moment ihres größten Erfolges tröstet Darja Varfolomeev ihre enttäuschte Teamkollegin Margarita Kolosov.
Tränen bei Margarita Kolosov
Die sitzt zusammengesunken auf einem Stuhl und weint bittere Tränen. Bis zur letzten Gymnastin liegt Kolosov auf einem sensationellen Bronze-Rang. Zwei deutsche Medaillen sind zum Greifen nah. Am Ende fehlen 1,05 Punkte zu Rang drei. Der vierte Platz tut am meisten weh, das weiß auch Varfolomeev.
Im Moment ihres historischen Triumphes vergisst die Olympiasiegerin ihre Teamkollegin nicht. Schließlich war es Kolosov, die Varfolomeev einst half, Deutsch zu lernen - als sie mit zwölf Jahren ohne Familie aus Sibirien nach Schmiden gekommen ist.
Gänsehaut-Moment bei Olympia
Mit der einen Hand streichte Varfolomeev den Rücken ihrer Freundin, mit der anderen winkte sie ins Publikum, das sie frenetisch für ihren grandiosen Sieg feiert. Diese Bilder, die ich als Reporterin live verfolgt und kommentiert habe, sie bereiten mir auch Monate später immer noch Gänsehaut.
Das gesamte Mehrkampfinale in Paris war eine äußerst emotionale Angelegenheit. Schon die Qualifikation am Tag zuvor ließ den Adrenalinpegel steigen. Darja Varfolomeev legte einen wackligen Auftritt hin.
Druck schon in der Qualifikation
Bei der Reifenübung rollte ihr das Handgerät von der Bodenfläche, sie turnte mit einem Ersatzreifen zu Ende. Die große Favoritin zeigte plötzlich Nerven. Und ihre Konkurrentin Sofia Raffaeli aus Italien brillierte in der Qualifikation.
Varfolomeev hatte die schwersten Übungen aller Konkurrentinnen. Sie ging mit allen vier Handgeräten - Reifen, Ball, Keulen und Band - absolut ans Limit des Machbaren. Nach ihrem fünffachen WM-Triumph 2023 hatte sie den Schwierigkeitswert aller Übungen nochmals erhöht. Der Druck, der auf der 17-Jährigen lag, war unermesslich. Im Finale musste sie ausgerechnet mit dem Reifen beginnen - und das nachdem es mit dem in der Qualifikation nicht rund lief.
Schweiß und Tränen für den Traum von Gold
Als Reporterin begleite ich Darja Varfolomeev inzwischen seit vielen Jahren, habe sie in der Trainingshalle in Fellbach-Schmiden erlebt, gesehen, wie viel Schweiß und Tränen bis hier hin geflossen sind. Bis zu 60 Stunden Training pro Woche - für ein Ziel, für einen Moment, für Olympisches Gold.
Die Anspannung? Riesig. Auch bei mir als Reporterin. Behält sie die Nerven und kann sie ihr Bestes zeigen? Das wünsche ich ihr.
Drama und Party auf der Fläche
Mit einem kräftigen Schub schickte ihre Trainerin Yulia Raskina sie auf die Gymnastik-Fläche. Schon die Ausgangsposition war spektakulär: ein Standspagat zum Staunen.
Alle Elemente, alle Risikoteile absolvierte sie mit einer Eleganz und einer Sicherheit, die beeindruckt. Keine warf so hoch wie Varfolomeev, fast zehn Meter - bis unter das Hallendach. Ich konnte es kaum fassen. 90 Sekunden Reifenübung in Perfektion und das nach diesem Missgeschick in der Qualifikation.
Rätsel und Patzer der Konkurrenz
Da saß sie nun in der sogenannten Kiss and Cry-Ecke und wartete auf die Wertung, den Kopf nach unten gesenkt. War sie etwa enttäuscht oder wollte die Noten der Kampfrichterinnen nicht sehen? Selbst mir als Reporterin war das für einen Moment fast rätselhaft.
Dann: Die beste Wertung für Varfolomeev mit dem Reifen, aber keine Reaktion. Stattdessen sprang sie auf und joggte mit ihrer Trainerin durch die Halle. Die Zeit fürs Umziehen, das WarmUp mit dem Ball war knapp.
Varfolomeev spielerisch leicht
Währenddessen patzte ihre Konkurrentin, die Qualifikations-Beste Sofia Raffaeli. In ihrem goldenen Gymnastik-Trikot und dem schwarzen Ball interpretierte Varfolomeev auch Michael Jacksons Hit "In the Closet" fantastisch. Diese großen Fußstapfen des "King of Pop" hat sie mit viel Fleiß und Akribie ausgefüllt.
Ihre Tanzschritte rissen das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Nach zwei von vier Handgeräten führte Varfolomeev immer noch. Sie schaute sich aber keine ihrer Wertungen an, sondern war ganz bei sich. Bei ihrer Keulenübung war dann Partytime angesagt. Sie lächelte und spielte scheinbar mit den Wertungsrichterinnen. Ihr Ausdruck, ihre Eleganz, dazu ihre makellose Technik begeisterten auch das Kampfgericht - wieder gab es die Bestnote für Varfolomeev. Mit einem Vorsprung von mehr als zwei Punkten ging es in die letzte Rotation.
Zittern mit dem Band
Aber da wartete ja noch das Zittergerät, das Band. Die Würfe mit dem sechs Meter langen Band hatten ihr zuletzt große Probleme bereitet. Mich hielt es kaum mehr auf meinem Sitz.
Das erste Risiko-Element mit dem hohen Wurf saß. Durchatmen. Alle gerätetechnischen Elemente, die Balance-Elemente exzellent, nur noch ein abschließender hoher Wurf, da hat sie bei der Europameisterschaft daneben gegriffen, aber auch das gelang Varfolomeev jetzt.
90 Sekunden für die Ewigkeit
Da lag sie nun auf der Fläche und schlug mit ihrer Faust auf den Boden. Der gesamte Druck fiel von ihr ab, Tränen kullerten über ihr Gesicht. Noch aber war nicht klar, ob es für die Goldmedaille reichen wird.
Erst als die finalen Punkte auf der Anzeigentafel erschienen und die "Eins" aufleuchtet, brachen alle Emotionen aus Varfolomeev heraus. Die 17-Jährige aus Schmiden ist die erste deutsche Olympiasiegerin in der Rhythmischen Sportgymnastik.
Sie hat ihre Sportart auf ein bisher unerreichbar geglaubtes Niveau gebracht. Für mich war es der erste Olympiasieg, den ich live kommentieren durfte. Dieses vierstündige olympische Finale voller Emotionen und Dramatik wird nicht nur mir ewig in Erinnerung bleiben.