Sport erklärt Betrug beim Schach - und was man dagegen tun kann

Stand: 26.11.2024 10:23 Uhr

Bei der Schach-WM in Singapur ist Magnus Carlsen nicht dabei. Vor Jahren hatte er einem Rivalen Betrug vorgeworfen. "Sport erklärt" zeigt, wie so ein Betrug funktioniert.

Dass Magnus Carlsen bei der Schach-WM in Singapur nicht dabei ist, ist für die deutsche Schach-Großmeisterin Elisabeth Pähtz ein Qualitätsverlust für das Turnier. "Es ist objektiv gesehen kein Duell der besten Spieler mehr", sagte die 39-Jährige gegenüber "web.de".

Carlsen verzichtete als Nummer eins der Welt erneut auf die WM: "Ich bin nicht motiviert, noch ein WM-Match zu bestreiten. Aus historischen Gründen wäre es interessant, aber es gäbe für mich nicht viel zu gewinnen." Schon 2023 hatte Carlsen nicht teilgenommen, als sich Ding Liren (China) gegen den Russen Jan Nepomnjaschtschi im Tiebreak durchsetzte.

Laut Pähtz habe der 33-Jährige "keine Lust mehr, sich bei einem WM-Kampf über Monate lang auf einen Gegner vorzubereiten". Pähtz glaubt, "dass er sogar bereit wäre, zurückzukehren, wenn man Schnell- und Blitzschach mehr in die WM einbezieht". Aktuell spielen Titelverteidiger Ding und der 18 Jahre alte Inder Dommaraju Gukesh in Singapur um die Schach-Krone.

Schach-Boom seit der Pandemie

Und nicht nur bei den Profis: Schach boomt. Und das auch, weil viele Menschen in der Corona-Pandemie ihre Begeisterung für Schach entdeckt haben. Auf der Streaming-Plattform Twitch eine der beliebtesten Sportarten. Zahlreiche Spieler leben nicht nur von Preisgeldern, sondern auch davon, ihre Partien zu streamen. Aber natürlich nur die besten. Das verleitet dazu, sich illegal in die Riege dieser besten einzuschleichen. So auch Hans Niemann. Er gab zu, früher beim Online-Schach betrogen zu haben: "Ich war bereit, alles zu tun, um meinen Stream zu vergrößern."

Oft geht es beim Betrügen darum, die eigene Elo-Zahl (benannt nach dem Erfinder Arpad Elo) aufzuwerten. Je höher sie ist, desto stärker der Spieler. Mit einer hohen Elo-Zahl gewinnt man an Ansehen in der Szene, kann gegen bessere Gegner spielen und an wichtigeren Turnieren teilnehmen. 

Wie im Schach betrogen wird und was man dagegen tun kann

Komplettes Schach-Turnier in der Ukraine erfunden

Im Jahr 2005 wurde ein komplettes Turnier in der Ukraine frei erfunden - inklusive Ergebnislisten und angeblicher Fotos von dem Event. Alles, um die Elo-Zahl einiger Spieler künstlich zu boosten. Die Elo-Manipulation funktioniert auch in die andere Richtung: Manche Spieler machen sich mit Absicht schlechter, um zum Beispiel an Amateur-Turnieren mit vergleichsweise hohem Preisgeld teilnehmen zu können - obwohl sie aufgrund ihrer Stärke eigentlich im Profi-Bereich spielen müssten.

Diese Art von Betrug passiert immer wieder, ist aber vergleichsweise selten. Viel häufiger passiert es, dass im Spiel selbst betrogen wird - durch Schach-Programme oder Apps. Seitdem der IBM-Computer “Deep Blue” Mitte der 90er Jahre den damaligen Weltmeister Garri Kasparow besiegte, hat sich die Technik so stark weiterentwickelt, dass Menschen keine Chance mehr gegen die Programme haben. Inzwischen kann jeder Laie mithilfe eines Smartphones die besten Spieler der Welt besiegen. 

Schachprogramme erreichen höhere Elo-Zahlen

Um es anschaulich zu machen: Für den Titel des Großmeisters braucht man eine Elo-Zahl von mindestens 2.500. Die höchste, die je ein Mensch geschafft hat, war 2882. Erreicht von Magnus Carlsen im Jahr 2014. Schach-Programme kommen inzwischen locker auf 3.500.

Das liegt an ihrer schieren Rechenleistung: Im Schach gibt es wahnsinnig viele mögliche Züge. 10 hoch 123 um genau zu sein – das ist eine 1 mit hundertdreiundzwanzig Nullen. So viele Positionen kann zwar auch ein Super-Computer nicht durchrechnen. Aber eine künstliche Intelligenz kommt dem Ziel deutlich näher als ein Mensch.

Die stärksten Schachcomputer heißen unter anderem Alpha Zero und Leela Chess Zero. Beide sind Autodidakten mit einem künstlichen neuronalen Netzwerk – sie spielen Millionen Spiele gegen sich selbst und bewerten die Positionen anhand der zuvor gespielten Spiele. Irgendwann können sie einfach „sehen“, was eine gute Position ist. Weit besser als jeder Mensch.

Betrüger lassen Schachprogramme spielen

Und das nutzen Betrüger aus: Sie geben einfach alle bisherigen Züge in ein Schach-Programm ein und spielen dann so, wie die App es ihnen vorschlägt. Am einfachsten geht das natürlich bei Partien im Netz. Man lässt einfach in einem zweiten Browsertab oder auf dem Smartphone eine Schach-Software laufen und benutzt sie wie einen Spickzettel in einer Klassenarbeit.

Bei Turnieren vor Ort ist das mit dem Betrügen natürlich sehr viel schwieriger. Da ist es selbstverständlich verboten, während des Spiels aufs Handy zu schauen. Trotzdem finden manche einen Weg - zum Beispiel indem sie ein Smartphone auf der Toilette deponieren und in wichtigen Spielphasen aufs Klo gehen. 

Gerüchte um Betrug per Sex Toy

Andere Betrüger lassen sich von Komplizen helfen, die ihnen die richtigen Züge zum Beispiel mittels Knopf im Ohr übermittelten. Es gibt sogar Gerüchte, dass die Tipps per ferngesteuertem Sex Toy übermittelt werden könnten, das im Körper des Spielers steckt. Weil die kleinste Info reicht, könnte schon ein kleiner vibrierender Empfänger reichen. Mit Morsecode könnten ganze Züge durchgegeben werden. Springer auf Feld A 3 wäre dann einfach SA3 oder „… / .- / …--".

Aber egal ob mit Handy auf dem Klo, Komplizen im Publikum oder vibrierenden Kugeln im Hintern: Wer einen Weg findet, wie die Tipps des Schach-Programms zum Spieler am Brett kommen, kann relativ einfach betrügen.

Veranstalter führen strenge Kontrollen ein

Deshalb versuchen die Veranstalter von Schach-Turnieren, möglichst strenge Kontrollen einzuführen. Es gibt Metalldetektoren am Eingang, die Mülleimer werden nach versteckten Smartphones durchsucht. Oder die Partien werden mit Zeitverzug ins Netz gestreamt, um illegalen Helfern am Bildschirm das Betrügen unmöglich zu machen. Um zu beweisen, dass er nicht betrügt, bot Hans Niemann sogar an, in Zukunft nackt zu spielen.

Da solche Kontrollen aber nur bei Spielen am Brett überhaupt etwas bringen, setzen die Veranstalter von Online-Turnieren noch auf eine weitere Überführungs-Methode: Sie analysieren die Partien mithilfe statistischer Analysen. Die berechnen, ob ein Spieler gleich lang für einfache und für komplizierte Züge braucht, ob er auf einmal deutlich besser als zuvor spielt, ob er verdächtig oft zur Seite schaut, wo ein zweiter Bildschirm stehen könnte. Und sie vergleichen die Züge der Spieler mit denen einer Software. Da selbst die weltbesten Spieler in der Regel nicht über 80 oder 85 Prozent Übereinstimmung kommen, kann ein deutlich höherer Wert ein Hinweis auf Betrug sein. 

Analyse von Hans Niemanns Partien

So hat die Seite Cess.com die Online-Partien von Hans Niemann analysiert und kam in einem 72 Seiten langen Bericht zu dem Ergebnis, dass er vermutlich bei mehr als 100 Partien betrogen hat - deutlich öfter, als er selbst zugegeben hat. Bei einigen Spielen stimmten seine Züge komplett mit denen einer Schach-Software überein. Das ist zwar noch kein Beweis, dass er tatsächlich ein solches Schach-Programm benutzt hat. Es könnte auch Zufall sein. Oder Niemann ist einfach so ein Ausnahmetalent, dass er so gut spielt wie ein Computer. Für Chess.com reichten die Indizien aber aus, um Niemann von der Seite zu verbannen.

Oft ist die Indizienlage aber weniger eindeutig. Denn Großmeister brauchen in der Regel nicht bei jedem Zug Hilfe, oft reicht schon ein winziger Hinweis, um eine Partie zu kippen. Und das macht es so schwierig, Betrüger zu erwischen.