Missstände im Turnen Aufklärerin klagt an: "Junge Mädchen werden zum Objekt gemacht"
Ethik-Professorin Natalie Barker-Ruchti half, den Turnskandal in der Schweiz mit aufzuklären. Sie spricht über trainierende "Stiefmütter", Turn-Eltern und die Frage: Wie viel ist ein kleines Mädchen wert?
Die neuerlichen schweren Vorwürfe deutscher Spitzenturnerinnen über körperlichen und seelischen Missbrauch in den Leistungszentren wecken Erinnerungen an den Turnskandal, der 2020 die Schweiz erschütterte.
Als Magglingen-Protokolle werden bis heute die Enthüllungsberichte von acht Schweizer Athletinnen über Missbrauch im Kunstturnen am Nationalen Sportzentrum in Magglingen bezeichnet. Die Dokumente gelangten Ende Oktober 2020 an die Öffentlichkeit.
Die Athletinnen berichteten von systematischen Einschüchterungen, Erniedrigungen sowie psychischer und physischer Misshandlung.
Die Schweizer Politik nahm die Vorfälle sehr ernst und reagierte mit Forderungen nach einer "Anlauf- und Meldestelle für Misshandlungen im Sport". Diese Meldestelle, an die die Organisation Swiss Sport Integrity angegliedert ist, wurde Anfang 2022 eingerichtet.
Der Skandal führte zu Konsequenzen: Der Geschäftsführer des Schweizerischen Turnverbandes (STV) erklärte seinen Rücktritt. Der beschuldigte Trainer, der das Sportzentrum leitete, seine Ehefrau und sein Bruder wurden entlassen. Die Nationalkader-Gruppe in der Rhythmischen Gymnastik im Sportzentrum in Magglingen wurde 2021 aufgelöst.
SWR Sport: Frau Barker-Ruchti, Sie haben in der Schweiz bei der Aufklärung des Skandals mitgewirkt. Was ging Ihnen jetzt durch den Kopf, als Sie von den erneuten Vorwürfen der deutschen Turnerinnen hörten?
Barker-Ruchti: Das war ein Déjà Vu. Aber es war leider auch nichts, das mich jetzt groß verwundert oder erstaunt hat. Solche Vorfälle gibt es weltweit, es hatte sie auch in den letzten Jahren gegeben. Auch inhaltlich ist das deckungsgleich. Am meisten hat es mich überrascht, dass es dies in einem Land wie Deutschland heute immer noch gibt. Es ist ja nicht der erste Turnskandal in Deutschland. Es gab auch schon die Vorfälle um Pauline Schäfer 2020 in Chemnitz. Auch international, um Deutschland herum, ist ganz viel passiert - in Holland, Belgien, in der Schweiz, in Italien, Frankreich oder England. Da könnte man schon erwarten, dass man sich überlegt: Was müssen wir machen, dass es besser wird? Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass das Sportsystem in Deutschland entwickelt und dass hier Ethik und Integrität gut umgesetzt werden.
Stellt das gesamte System ein Problem dar oder sind es einige schwarze Schafe, die es auszusortieren gilt?
Die schwarzen Schafe gibt es überall, die wird es auch immer geben. Aber die schwarzen Schafe agieren ja immer innerhalb eines Systems. Deshalb denke ich, dass das, was unter anderem in Stuttgart gemeldet wurde, auf einen Systemfehler hinweist.
Warum ist gerade das Frauenturnen anfällig für solche Missstände?
Das hat sicherlich etwas mit dem Wandel des Frauenturnens zu tun. In den 60er und 70er Jahren hat sich diese Sportart von einem erwachsenen Frauensport in eine Kindersportart verwandelt. Es hat eine Akrobatisierung stattgefunden. Heute turnen Athletinnen extrem risikoreich. Es entwickelte sich der Gedanke, dass diese schwierigen Übungen bereits in der Kindheit erlernt werden müssten, bevor die Pubertät einsetzt. Das heißt, eine Turnerin muss innerhalb von zehn Jahren sehr viel erlernen. Da darf man keine Pausen machen, da haben Verletzungen keinen Platz. Es kommt sehr viel Druck auf, damit diese Entwicklung permanent vorangeht. Dies kann dazu führen, dass bestimmte Methoden angewendet werden, um diese Entwicklung zu erzwingen.
Sind Mädchen im Turnen anfälliger für körperlichen und seelischen Missbrauch als Jungs?
Ja, ich würde das so sagen. Bei ihnen ist ein Körperideal so stark verankert, dass die Pubertät und das Erwachsen-Werden als ungeeignet empfunden werden. Bei den Männern hingegen wartet man schon fast auf die Pubertät, weil mit der hormonellen Veränderung ein muskuläres Wachstum möglich ist. Es gibt aber noch sehr wenig Forschung dazu.
Die Vorwürfe der Turnerinnen richten sich in erster Linie an Trainerinnen und Trainer. Diese sollen, teilweise nur mit befristeten Verträgen ausgestattet, möglichst schnell die Sportlerinnen zu Höchstleistungen und Erfolgen führen – und dabei möglichst empathisch mit jeder Turnerin umgehen. Sind sie damit überfordert?
Ich glaube, da muss noch viel Aufklärungsarbeit und eine Sensibilisierung geschehen. Den Trainerinnen und Trainern ist oft nicht bewusst, welch großen Einfluss sie auf das Leben einer jungen Turnerin haben. Und zwar nicht nur während der Zeit, in der das Mädchen turnt, sondern auch viel längerfristiger für das Leben danach. Wir brauchen im Frauenturnen mehr Coaching-Methoden, die ethisch, vorbildlich und nachhaltig sind. Es gibt zu wenig Informationen darüber, dass es auch ohne übertriebenen Druck und mit Pausen geht. Dass es möglich ist, die Sportlerin als mündige Athletin zu behandeln. Es ist also auch eine Bildungsfrage.
Rachael Denhollander, die als frühere Turnerin eine Schlüsselrolle in der Aufdeckung des Missbrauchsskandals im US-amerikanischen Turnen um Larry Nassar spielte, sagte im Gerichtsprozess als letzte Zeugin aus. Sie endete mit den Worten:
“How much is a little girl worth?“ - Wie viel ist ein kleines Mädchen wert? Rachael Denhollander, Ex-US-Turnerin
Junge Mädchen werden zum Objekt gemacht, sie sind noch nicht mündig. Dies führt dazu, dass junge Turnerinnen so behandelt werden, wie wir es gehört haben. Und das System stellt dies nicht in Frage.
Was können Turn-Eltern tun, wenn sie merken, irgendetwas stimmt da nicht bei meinem Kind?
Das Wichtigste ist, das Kind ganz ernst zu nehmen, wenn es nach Hause kommt und von solchen Erlebnissen erzählt. Das darf nicht weggeredet werden. Es muss dann bei einer Trainerin, bei einem Verein oder einem Verband angesprochen werden. Dies kann natürlich eine Abwehrhaltung bei einem Verein oder Verband auslösen. Aber da müssen die Eltern beharrlich bleiben. Sicherlich stecken die Eltern da in einem Dilemma, es ist eine schwierige Situation. Leider wissen viele Eltern aber nicht wirklich, was in der Turnhalle passiert. Aber einfach nur weitermachen wie bisher, ist sicherlich nicht die beste Lösung. Denn die Langzeitkonsequenzen könnten die Eltern später sehr stark belasten. Hilfreich wäre es sicherlich, mit Leuten außerhalb der Turn-Bubble zu sprechen, um nach Lösungswegen zu suchen.
Baden-Württembergs Sportministerin Theresa Schopper verlangt eine Aufklärung der Vorwürfe und erhöht den Druck auf den Schwäbischen Turnerbund (STB). Welche Rolle hat in der Schweiz die Politik bei der Aufklärung des Turnskandals vor gut vier Jahren gespielt?
Eine starke politische Reaktion ist unbedingt notwendig. Das setzt ein Zeichen und bringt Dinge in Bewegung. Die Schweizer Bundesrätin Viola Amherd hatte die Magglingen-Protokolle sehr ernst genommen. Sie sagte: Wir wollen Leistungssport in der Schweiz, wir stehen dazu, aber wir wollen ihn nicht um jeden Preis. Das bedeutet auch, dass die Ethik wichtiger ist als die sportliche Leistung. Der erste Schritt war eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle, die gemeldet worden waren. In dem Untersuchungsbericht standen dann konkrete Empfehlungen. Diese Empfehlungen waren die Grundlage für den Schritt, Ethik im gesamten Schweizer Sportsystem, nicht nur im Frauenturnen zu installieren. Dies war möglich, weil die oberste Sportpolitikerin der Schweiz die Vorfälle sehr ernst genommen hat.
Der Deutsche Turner-Bund (DTB) und der Schwäbische Turnerbund (STB) haben eine Aufklärung angekündigt. Wie sollte diese aussehen?
Eine Untersuchung muss unbedingt unabhängig sein. Es müsste jemand beauftragt werden, der außerhalb des Sportsystems steht. Wer das letztlich ist, hängt von dem Auftrag ab. Gibt es eher einen rechtlichen Auftrag? Dann müssten es Juristen oder Anwälte machen. In der Schweiz war es eine Anwaltskanzlei, die interdisziplinär unterwegs war. Sie kannte sich sehr gut mit Kinderrechten aus und hat auch die Sportwissenschaften hinzugezogen. Die Kanzlei war unabhängig und hatte Erfahrungen mit solchen Untersuchungen.
Obwohl in den Präsidien von DTB und STB viele Frauen sitzen: Brauchen wir grundsätzlich mehr Frauen in verantwortungsvollen Positionen im Sport?
Ja, die brauchen wir. Unsere Bundesrätin hat den Skandal damals ernst genommen. Ich bin nicht überzeugt, dass jemand anderes das genauso gemacht hätte. Ich denke, wir brauchen auch an anderen Orten mehr Frauen, gerade in der Trainerschaft im Kunstturnen der Frauen. Natürlich gibt es schon Trainerinnen an verantwortlichen Positionen. Leider ist es im Frauenturnen aber auch so, dass Trainerinnen harsche oder missbräuchliche Methoden und Coaching-Stile anwenden. Für mich sind diese Trainerinnen wie eine Art Stiefmutter. Stiefmütter gelten in Märchen oft als das lieblose Gegenteil der wirklichen Mutter. Dies bestätigt auch die Forschung.
Im Schweizer Sport wurde ein Ethik-Kompass eingeführt. Wie funktioniert der?
Das System "Wertvoller Schweizer Sport" basiert auf vier Farben: Grün, grau, orange und rot.
Grün bedeutet: wertvoll und würdevoll. Der Sport macht Spaß, und die Athleten können sich ganzheitlich entwickeln.
Grau heißt: Das gehört zum Alltag, das ist normal. Aber da gibt es Situationen, die irritieren. Aber die sind weder strafrechtlich noch ethisch relevant. Sie gehören zum Alltag, die muss man einfach besprechen.
Orange bedeutet: Es gab einen Verstoß gegen das Ethik-Statut und
Rot ist ein strafrechtlich relevanter Vorfall.
Was wünschen Sie sich für den deutschen Turnsport angesichts der aktuellen Diskussion?
Ich wünsche mir, dass die Verbände die Meldungen der Turnerinnen sehr ernst nehmen. Sie sollten verstehen, dass das wahr ist und dass es jetzt viel Arbeit braucht, die unbequem und herausfordernd ist. Aber die Verantwortlichen sollten dies als Chance sehen und sich auch externe Hilfe holen. Sie sollten transparent mit diesem Prozess umgehen und nicht versuchen, es intern zu lösen.
Sendung am So., 19.1.2025 22:05 Uhr, SWR Sport, SWR