Turnerinn reibt sich Hände mit Magnesia ein

Nach Missständen an Turn-Stützpunkten Offener Brief: Turnerinnen kritisieren Aufarbeitung des DTB

Stand: 11.02.2025 08:43 Uhr

Ehemalige Spitzenturnerinnen fordern in einem offenen Brief den Deutschen Turner-Bund auf, den Untersuchungs-Auftrag an eine Kanzlei zurückzunehmen. Eine Ethikprofessorin spricht von möglicher Befangenheit.

Der offene Brief (liegt dem SWR vor) richtet sich an den Vorstand und das Präsidium des Deutschen Turner-Bundes (DTB), an das für den Sport zuständige Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI), an das Sportministerium Baden-Württemberg sowie an den Landessportverband BW. Darin fordern die Unterzeichner den DTB auf, seinen bereits erteilten Auftrag an die Frankfurter Rechtsanwaltskanzlei Rettenmaier zur Untersuchung der jüngst erhobenen Vorwürfe und Missstände im Turnen zurückzunehmen.

Unterzeichnet ist der Brief von 28 Personen, vorwiegend von ehemaligen Spitzenturnerinnen, Trainern, Stützpunktleitern und Eltern. Zu den Turnerinnen gehören u.a. Janine Berger (Olympia-Vierte 2012), Lara Hinsberger, Nadine Jarosch (Olympia-Teilnehmerin 2012), Zoé Meißner, Amelie Pfeil, Sophie Scheder (Olympia-Bronze 2016) oder Pia Tolle (WM-Teilnehmerin 2011).

Wie unabhängig ist die beauftragte Kanzlei?

Nach Meinung der Unterzeichner hätten der DTB und die Kanzlei Rettenmaier bereits vor vier Jahren bei der Aufarbeitung der Vorfälle am Bundesstützpunkt in Chemnitz gezeigt, dass eine durch den Turnverband selbst beauftragte Untersuchung nicht unabhängig sein könne. Die Ergebnisse einer solchen Untersuchung könnten davon beeinflusst werden, welche Eigeninteressen der DTB verfolge.

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Sophie Scheder, Olympia-Dritte von Rio 2016, hatte damals nach den Missbrauchsvorwürfen gegen ihre Trainerin Gabriele Frehse die Objektivität der vom DTB beauftragten Anwaltskanzlei infrage gestellt. In einem Interview im Februar 2021 sagte Scheder, in dem Gespräch mit den Anwälten habe sie das Gefühl gehabt, dass man ihr nicht glaube.

"Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie meine Meinung wirklich hören wollten. Zum Schluss durfte ich mir anhören: Na ja, Frau Scheder, was Sie jetzt erzählt haben, könnte man meinen, alle anderen lügen", sagte Scheder und fügte hinzu: "Damit fühlte ich mich nicht verstanden."

Ethik-Professorin fordert Unabhängigkeit, Unbefangenheit und Transparenz

Dabei sind nach Ansicht von Ethik-Professorin Natalie Barker-Ruchti drei Kriterien von größter Relevanz für eine konsequente Aufarbeitung von Missbrauchssituationen und -fällen: Unabhängigkeit, Unbefangenheit und Transparenz. Die 52-jährige Schweizerin weiß, wovon sie spricht. Barker-Ruchti half, den Turnskandal 2020 in der Schweiz mit aufzuklären. "Sobald es Abhängigkeiten und Befangenheiten gibt, ist das Risiko groß, dass bereits der Auftrag selbstreinigend formuliert ist. Das heißt, der Auftrag stellt nicht die richtigen Fragen. Es kommen nicht alle zu Wort, die zu Wort kommen sollten. Und diejenigen, die befragt werden, können nicht frei oder befreit antworten."

Die Frankfurter Rechtsanwaltskanzlei Rettenmaier ist mit dem deutschen Sportsystem offenbar eng verbunden. Der Jurist Felix Rettenmaier leitete nicht nur die Untersuchung am Turn-Stützpunkt in Chemnitz, sondern war auch 2023 in die Aufarbeitung der Vorwürfe gegen den inzwischen verstorbenen Vizepräsidenten des Deutschen Tennis Bunds (DTB), Dirk Hordorff, eingebunden. Auch damals ging es um Machtmissbrauch. Rettenmaier saß in einem dreiköpfigen Gremium, Betroffene waren nicht eingebunden.

Rechtsanwalt auf Payroll des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB)

Auch sonst tummelt sich Felix Rettenmaier augenscheinlich gern im deutschen Sportnetzwerk. Seit Anfang 2018 besetzt der Jurist die externe Ombudsstelle des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) – als unabhängiger Vertrauensanwalt. Auch wenn der DOSB betont, Rettenmaier unterliege keinen Anweisungen des DOSB, kostenlos macht der Jurist diesen Job nicht. Auf SWR-Anfrage teilt der DOSB mit, es gebe zwischen der Kanzlei Rettenmaier und dem DOSB "eine vertragliche Beziehung, in der die Vergütung für seine Tätigkeit festgelegt ist." Die Höhe der Vergütung nennt der DOSB nicht.

Natalie Barker-Ruchti zur Befangenheit der beauftragten Kanzlei

Bei Ethik-Professorin Barker-Ruchti klingeln angesichts dieser Konstellation die Alarmglocken. Dies "deutet zumindest auf eine Befangenheit hin, vielleicht sogar eine Abhängigkeit." Es komme immer darauf an, wen man als Auftraggeber frage und beauftrage. "Vielleicht sagt der Turnerbund, für uns ist das kein Problem. Und die Kanzlei sagt, für uns auch nicht. Aber die Betroffenen würden das wahrscheinlich anders einschätzen."

Turnerinnen fordern neutrale und unabhängige Aufklärung

Aktuell fordert der Deutsche Turner-Bund (DTB) in persönlichen Anschreiben die Turnerinnen auf, ihre Kontaktdaten zur Weitergabe an die Kanzlei Rettenmaier freizugeben. "Wir haben große Sorge, dass der Deutsche Turner-Bund damit Fakten schaffen und einer möglichen unabhängigen Aufklärung zuvorkommen möchte", heißt es dazu.

Genau diese unabhängige Untersuchung und Aufklärung fordern die Unterzeichner des offenen Briefes. Sie appellieren an das BMI, das Sportministerium BW sowie an den Landessportverband Baden-Württemberg, sich mit Nachdruck dafür einzusetzen, dass "eine neutrale und von den Turnverbänden unabhängige Aufklärung" umgesetzt werde.

Ethik-Professorin Natalie Barker-Ruchti zur Auftragsvergabe

Wie diese aussehen könnte, zeigt die Aufarbeitung des Turnskandals in der Schweiz. Hier trieb nicht eine Sportorganisation die Aufarbeitung voran, sondern das zuständige Sport-Ministerium. "Der Auftrag für die Untersuchung wurde kompetitiv, also im Wettbewerb vergeben", berichtet Natalie Barker-Ruchti. Der Auftrag wurde "nicht an eine Kanzlei, die bereits vorher im Sportsystem bzw. im Turnsystem eingebunden war" vergeben. Dies wäre auch für das deutsche Turnen der idealere Weg gewesen, ergänzt Barker-Ruchti.

Fördergelder als Druckmittel?

Das für den deutschen Spitzensport zuständige Bundesministerium des Innern und der Heimat (BMI) förderte den Deutschen Turner-Bund 2024 mit insgesamt gut 4,7 Millionen Euro. Für dieses Jahr wurden etwa 3,7 Mio. Euro in Aussicht gestellt.

Auf SWR-Anfrage teilt das Ministerium mit: "Jeder Vorfall von Gewalt im Sport ist entsetzlich und erschüttert das Vertrauen in den Sport, seine Strukturen und Akteure." Die jüngsten Vorwürfe zeigten leider erneut, wie wichtig der Aufbau eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport sei. "Es braucht eine von den verbandsinternen Strukturen losgelöste unabhängige Stelle, an die sich Betroffene im Bedarfsfall wenden können und welche die Vorwürfe interpersonaler Gewalt untersucht."

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Gilt diese Unabhängigkeit von verbandsinternen Strukturen auch für die Untersuchung und Aufarbeitung von Missständen? Hier verweist das Berliner Ministerium auf einen bestehenden Grundsatz. "Die jeweilige Untersuchungs- und Disziplinargewalt in Bezug auf interpersonale Gewalt unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegt grundsätzlich bei den autonomen Sportorganisationen selbst."

Auf die Frage, ob man in Berlin – ähnlich wie es kürzlich BW-Sportministerin Theresa Schopper formulierte – an ein mögliches Einfrieren von Fördergeldern als "letztes Druckmittel" denke, antwortet das BMI: "Die Ergebnisse der laufenden Untersuchungsverfahren beim DTB und STB sind zunächst abzuwarten. Sobald dem BMI eine belastbare Tatsachengrundlage vorliegt, werden etwaige Konsequenzen geprüft."