In Berlin und Brandenburg Rückenwind für den Radsport?
Die Deutschland Tour und das internationale Nachwuchsrennen "Tour de Berlin" verschaffen dem Radsport in der Region Aufmerksamkeit. Nach schwierigen Jahren ist in Berlin und Brandenburg ein Aufwärtstrend zu erkennen – gerade auch im Nachwuchs.
Dieser Tage steht der Radsport in Deutschland mal wieder besonders im Blickpunkt, wenn 20 Teams und insgesamt 120 Profis bei der Deutschland Tour auf dem Weg von St. Wedel nach Bremen um Etappen und den Gesamtsieg kämpfen. Um es mit den Worten von Jens Voigt auszudrücken: "Die Deutschland Tour ist zweifellos das Flaggschiff des deutschen Radsports", so der ehemalige Berliner Radrennfahrer, der die Deutschland Tour - zu sehen im Livestream auf sportschau.de und im Hauptprogramm von ARD und ZDF - selbst zwei Mal gewann (2006 und 2007). "Es ist die große und leider auch die einzige Bühne, auf der sich alle deutschen Lokalmannschaften, die eingeladen werden, zeigen dürfen", so Voigt.
Angesprochen auf den aktuellen Stand der Dinge des Radsports in Deutschland bilanziert Voigt: "Im Augenblick sieht es gut aus für den deutschen Radsport. Wir haben sehr, sehr solide Fahrer." Was fehle, seien Profis, die auch auf der großen Bühne der Tour de France regelmäßig Etappensiege holen, so Voigt. "Wir haben aber eine Menge sehr gute Fahrer, auch bei den Junioren und in der U23 kommt einiges nach. Um die Zukunft des deutschen Radsports muss uns nicht bange sein."
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"Wir wachsen in allen Bereichen und Disziplinen"
Eine Einschätzung, die zunächst überraschen mag. Schließlich gingen bei der diesjährigen Tour de France nur sieben deutsche Fahrer an den Start– so wenige wie seit mehr als 20 Jahren nicht. Und gerade was den Nachwuchs betrifft, ließ der Bund Deutscher Radfahrer aufhorchen, als bekannt wurde, dass die Zahl der Rennlizenzen allein im U19-Bereich im Zeitraum zwischen 2006 und 2021 von 1.054 auf 369 zurückgegangen war [sportschau.de].
Auch in Berlin sei die Ausgangslage vor wenigen Jahren "mehr als dramatisch" gewesen, sagt Claudiu Ciurea, Präsident des Berliner Radsport Verbands. "Es standen Fragestellungen im Raum, ob es den Verband überhaupt noch geben kann oder nicht. Wir haben es aber geschafft, ein Team hinter den Verband zu stellen und den Radsport wieder in den Vordergrund zu bringen."
Inzwischen befinde sich der Berliner Radsport wieder in einem positiven Trend, meint Ciurea. "Wir wachsen in allen Bereichen und Disziplinen. Unsere Kadersportlerzahlen wachsen ständig und gerade Nachwuchs haben wir immer mehr Sportler, die sich Richtung Leistungssport bewegen."
Trainer verschwinden ins Rentenalter
Als einen entscheidenden Faktor für jenen Aufwärtstrend nennt Ciurea engagierte Ehrenamtler, die "sich wahnsinnig eingesetzt" haben. Diesen Einsatz könne man jedoch "nicht unendlich" erwarten: "Wir haben Strukturen aufgebaut, die in Zukunft hauptamtlich getragen werden müssen." Negativ sei, Ciurea zufolge, "die nicht-optimale Unterstützung seitens Politik und Landessportbund": "Wir haben zwar den Eindruck, dass der Radsport und das Radfahren einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft haben – und auch für die Politik sehr wichtig sind. Es passiert aber zu wenig, um den Radsport noch weiter voranzubringen."
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Detlef Uibel, seines Zeichens Bundesstützpunktleiter für den Radsport in Brandenburg, kommt zu einem ähnlichen Schluss: Immer mehr Trainer und Übungsleiter seien "im Rentenalter verschwunden". In den letzten Jahren habe es immer weniger junge Leute gegeben, die sich als Trainer engagieren wollen. "Die Ehrenamtlichkeit ist stark zurückgegangen. Das ist ein Riesenproblem." Für Uibel steht fest: "Der bundesweite Trend ist, nicht nur im Radsport, auch hier in Brandenburg zu spüren. Deswegen ist es wichtig, dass wir versuchen, mit hauptamtlichen Trainerstellen den Sport wieder zu beleben und strukturell anzugehen, indem wir Nachwuchs sichten."
Tour de Berlin als große Bühne für die Kleinen
Doch ähnlich wie Ciurea sieht auch Uibel den Radsport in der Region im Großen und Ganzen auf einem guten Weg: "Wir sind gerade dabei, weiße Flecken in Brandenburg wiederzubeleben, zum Beispiel im Norden und Westen, wo der Radsport in den letzten Jahren – speziell auch durch Corona – komplett eingeschlafen ist, gerade im Kinder- und Jugendsport." Dabei sei vor allem positiv, "dass wir wieder vermehrt Wettkämpfe haben und dass sich auch die kleinen Vereine bemühen, Veranstaltungen in ihren Regionen durchzuführen."
Ein besonderer Wettkampf steht am Wochenende auf dem Programm: Von Freitag bis Samstag (25. bis 27. August) findet die Tour de Berlin – Internationales Youngsters Race [tour-de-berlin.de] statt, eine dreitägige Etappenfahrt für die Altersklassen U13 und U15 - an Schauplätzen wie dem Tempelhofer Feld oder dem Olympischen Platz. "Letztes Jahr waren die Teilnehmerzahlen noch durchwachsen", sagt Ciurea. Rund 80 Sportler seien dabei gewesen. In diesem Jahr seien es insgesamt knapp 250 Starter in den männlichen und weiblichen Altersklassen. "Auch international werden wir als Standort Berlin wieder wahrgenommen. Knapp 25 Prozent der Starter kommen aus dem Ausland. Diese internationalen Begegnungen sind für Kinder auch sehr wertvoll."
Die Talsohle nach der Corona-Pandemie sei endgültig durchschritten, man freue sich über die positive Resonanz, hieß es seitens Ciurea vor dem Auftakt. "Solche Veranstaltungen dienen dazu, den Eltern und Kindern die Sportart zu präsentieren. Die Kinder sollen die Chance bekommen, mal reinzuschnuppern und ein Gespür für den Sport zu bekommen. Eventuell können wir den ein oder anderen auf diese Weise dafür begeistern, in einen Verein einzutreten."
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Hoffen auf einen neuen Boom
Rennen wie die Tour de Berlin seien, auch Ex-Profi und Experte Jens Voigt zufolge, ein essenzieller Baustein in der Nachwuchsförderung. "Es ist wichtig, dass die Kleinen auch mal eine große Bühne bekommen und nicht nur in irgendeinem Gewerbegebiet unter Ausschluss der Öffentlichkeit fahren." Und wer weiß, vielleicht geht in absehbarer Zukunft dann auch wieder die Zahl der deutschen Fahrer auf den ganz großen Bühnen des Radsports nach oben.
"In den letzten Jahren hat sich schon wieder etwas entwickelt, wir müssen aber auf jeden Fall noch weiter daran arbeiten, dass der Radsport in Deutschland einen höheren Stellenwert bekommt: den Nachwuchs fördern, das Interesse der Leute steigern, sie zum Straßen- und Bahnradsport bringen", meint der Cottbuser Radrenn-Profi Max Kanter, aktuell für das Team Movistar aktiv. "Was sehr gut funktioniert, ist Erfolg. Wenn mal wieder ein deutscher Fahrer das gelbe Trikot bei der Tour de France tragen würde, wäre das ein großer Push für den deutschen Radsport."
Jens Voigt ist sich jedenfalls sicher, dass dies nur eine Frage der Zeit sei: "Das Leben schwingt auf und ab. Wissen Sie noch, wie groß Tennis mit Becker und Graf war? Im Radsport gibt es genügend Fahrer. Es hängt aber immer von einem Verein, einer einzelnen Person ab, die alles mitreißt. Es braucht ein, zwei Leute mit Herzblut – und dann könnte es in jedem beliebigen Ort Deutschlands eine Ringer-Hochburg, eine Boxer-Hochburg oder eine Radsport-Hochburg geben."
Sendung: rbb24 Inforadio, 23.08.2023, 21:30 Uhr