Leichtathletik Owen Ansah und seine 9,99 Sekunden für die Geschichtsbücher
Owen Ansah hat 2024 Leichtathletik-Geschichte geschrieben. Der Hamburger knackte als erster deutscher Sprinter die magische 10-Sekunden-Marke - und sah sich danach rassistischen Anfeindungen ausgesetzt. Doch der HSV-Athlet bewahrte kühlen Kopf und schöpft sogar Motivation für das neue Jahr daraus.
"Thankful" prangte kürzlich in großen Lettern in einer Instagram-Story des schnellsten deutschen 100-Meter-Sprinters, den es seit Beginn der Rekordaufzeichnungen im Jahr 1911 je gegeben hat: Owen Ansah ist dankbar für das Kapitel deutscher Sportgeschichte, das er in diesem Jahr geschrieben hat.
Eine Leistung von sporthistorischer Dimension
Es ist ein warmer Sommertag und bestes Sprinterwetter, als der gebürtige Hamburger am 29. Juni an der Hamburger Straße in Braunschweig als erster Deutscher die magische 10-Sekunden-Schallmauer bei den nationalen Meisterschaften knackt. Eine Leistung von sporthistorischer Dimension wie die handgestoppten 10,0 Sekunden eines Armin Hary 1960 in Zürich.
9,99 Sekunden: ein Knall, ein Kracher, eine Sensation - und ein deutscher Meistertitel für den Hamburger SV. "Was da passiert ist, ist auf jeden Fall immer noch Gänsehaut", erzählt der 24-Jährige dem NDR und ist auch ein halbes Jahr später euphorisch. Erst recht, wenn er sich das Video anschaut. "Es ist auf jeden Fall ein sehr, sehr schönes Gefühl gewesen", erinnert er sich an den historischen Moment im Eintracht-Stadion.
Grandioses Comeback nach langer Verletzungspause
Ansah ist dankbar und demütig. Denn er hat ganz andere Zeiten erlebt. Lange Monate, in denen ans Sprinten noch nicht einmal zu denken war. Und dann, nach zahlreichen Arztbesuchen und Reha-Einheiten während der einjährigen Verletzungspause, ein erster Testwettkampf im Mai 2024 in Leverkusen: 10,11 Sekunden - was für ein Comeback!
"Man man weiß ja, dass es meistens nicht so gut läuft, wenn man aus einer Verletzung wiederkommt. Ich bin umso glücklicher, dass es bei mir eben nicht so war. Ich habe meine Ziele nie wirklich aus den Augen verloren", berichtet der Schützling des ehemaligen Weltklasse-Weitspringers Sebastian Bayer. Und wenn er das doch einmal kommen sah, "dann habe ich ganz viele Post-it-Zettel mit meinen Zielen geschrieben und überall in der Wohnung aufgehängt, damit ich sie nicht aus den Augen verliere. Das hat mir sehr geholfen."
Rassistische Anfeindungen nach dem Rekord
In seinem zweiten Wettkampf nach der Zwangspause wegen eines Schambein-Ödems und eines Ermüdungsbruchs im Fuß rannte der gläubige Christ in Rom direkt ins EM-Finale und auf Platz fünf und sicherte sich zudem mit der Sprintstaffel Bronze. Nur drei Wochen später folgte schließlich der deutsche Rekord in sensationellen 9,99 Sekunden.
Ein Paukenschlag, mit dem der Sportsoldat der Bundeswehr Beifallsstürme entfachte - für den er aber auch in den Sozialen Medien heftigen Neid und Missgunst erntete. Ihm, dem Hamburger Jung, wurde nicht nur seine deutsche Nationalität und Identität abgesprochen. Der in Deutschland geborene Sohn ghanaischer Einwanderer wurde sogar rassistisch so sehr bepöbelt, dass der Deutsche Leichtathletik-Verband daraufhin eine Kooperation mit einer Sonderstaatsanwaltschaft einging, um den zahlreichen Anfeindungen Einhalt zu gebieten.
"Es gibt zwei Optionen: Man kann sich die ganzen Sachen durchlesen und daran kaputtgehen. Oder man schenkt dem keine Aufmerksamkeit und dein Leben geht genauso weiter wie davor", sagt Ansah, der sich für die zweite Möglichkeit entschied - und sogar daran erstarkte. "Das hat mich noch härter gemacht. Leider Gottes gibt es diesen Rassismus und versteckten Alltagsrassismus immer noch. Ich nehme das als Motivation, um 2025 noch einmal einen deutschen Rekord oder sonstwas aufzustellen und denen zu zeigen 'Ey, der Deutsche Owen Ansah hat es wieder getan!'"
Paris trotz Enttäuschungen "einfach groß"
Leichter wird das nicht. Denn mit dem erfolgreichsten Karrierejahr sind die Erwartungen an den 24-Jährigen gestiegen. Dass sie zur Bürde werden können, zeigte sich schon im Sommer bei den Olympischen Spielen in Paris. Ansah startete im Vorlauf direkt neben dem US-Star und späteren Olympiasieger Noah Lyles. Ein Schuss, ein kleiner Stolperer, 10,22 Sekunden - alles ganz schnell vorbei, das Halbfinale verpasst.
"Ich habe das abgehakt", versichert Ansah. "Mit der 10,22 bin ich nicht zufrieden gewesen, aber das war einfach groß. Ich stand eben neben Noah Lyles, dem Showmaker durch und durch. Das ist auf jeden Fall was anderes als ein Rennen in Deutschland, ohne jemandem zu nahe zu treten."
Alles für die Staffel - und wieder verletzt
Auch mit der Staffel lief es an der Seine nicht ganz rund. Auf Position zwei erwischte der schnellste Deutsche aller Zeiten den Ablauf perfekt, doch bei 50 Metern meldete sich die Muskulatur an der Oberschenkelsrückseite. Ansah zog durch. Gegen den Schmerz. Für die Mannschaft. Einer für alle, sein Motto im Quartett. "Renn' weiter, übergib' das Staffelholz an den nächsten und im Finale wirst du einfach ausgewechselt", so sei er da rangegangen, erzählt der HSV-Athlet.
Doch am Ende reichte es nicht, schied das nominell wohl aussichtsreichste Männer-Sprintteam der deutschen Leichtathletik-Geschichte als Fünfter in der Vorrunde aus. Erst später stellte sich heraus, dass sich Ansah bei seinem Kampf für die Staffel wieder einmal schwer verletzt hatte. Den Muskelbündelriss musste er bis zum Herbst auskurieren.
2024 das erfolgreichste Jahr in Ansahs Sportlerleben
Doch was von 2024 bleibt, ist das erfolgreichste Jahr seines Sportlerlebens. Deutscher Rekord in 9,99 Sekunden, die EM-Medaille mit der Staffel, vor 57.000 Zuschauern im Hamburger Volksparkstadion wird Ansah am Rande eines Fußballspiels der HSV-Profis geehrt. Mit dabei sind seine Eltern, die vor drei Jahrzehnten aus Ghana nach Deutschland kamen.
Dass sie das mit ihm zusammen erleben dürfen, ist für ihn ähnlich viel wert wie olympisches Edelmetall: "Es bedeutet mir sehr, sehr viel. Meine Eltern sind nach Deutschland gekommen mit gar nichts, mit einem Rucksack und haben sich dann sowas aufgebaut." Die eindringlichen Worte des Vaters haben sich ihm eingeprägt: "Mein Papa hat mir immer gesagt: 'Ey, du musst an deine Zukunft denken. Ich möchte nicht, dass du so leidest oder das erfahren musst, was ich erfahren habe. Du bist in Deutschland geboren, nutz' dieses Privileg!'"
Ehrungen und Dankbarkeit
Ansahs Rekord-Trikot hängt inzwischen im HSV-Museum im Volksparkstadion, seine Unterschrift ziert ebenso wie die seines Teamkollegen Lucas Ansah-Peprah, der im Sommer 10,00 Sekunden auf die Bahn zauberte, das Goldene Buch seiner Geburtsstadt Hamburg. Der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher lud im Oktober 2024 ins Rathaus ein. Der HSV verlängert nach Problemen mit dem Hauptsponsor seinen Vertrag. "Ich bin dankbar für die Dinge, die in meinem Leben passiert sind", sagt Ansah. Einige ganz wichtige sind 2024 geschehen.
Dieses Thema im Programm:
Sport aktuell | 31.12.2024 | 11:17 Uhr