Sportclub Story über Jogi Löw Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient
Jogi Löw hat die Fußball-Nationalmannschaft als Bundestrainer ein Stück weit neu erfunden. Stand die DFB-Auswahl vor seiner Zeit vorwiegend für "deutsche Tugenden" wie Einsatzwillen und taktische Disziplin, begeisterte sie unter dem Schwaben durch Kombinationsfußball und Dominanz. Der WM-Titel 2014 war der Höhepunkt der Ära Löw - und für ihn ein mentaler Tiefpunkt, wie er in der Sportclub Story offen erzählt.
Um den Menschen und Trainer Joachim Löw, der in Fußball-Deutschland eigentlich nur als Jogi Löw bekannt ist, besser verstehen zu können, hilft ein Ausflug nach Umkirch. Die kleine Gemeinde acht Kilometer von Freiburg entfernt hat einen schicken Sportpark, in dem sich der frühere Bundestrainer einmal in der Woche mit früheren Mitspielern vom SC Freiburg und Freunden zum Fußball spielen auf einem der fünf Soccerplätze trifft.
Löw gibt es dann stets in doppelter Ausführung. Einmal als Teil eines riesigen Wandgemäldes, auf dem neben ihm noch Lothar Matthäus, Franz Beckenbauer, Fritz Walter und Philipp Lahm zu sehen sind. Und einmal eben auf dem Kunstrasen als zuweilen ziemlich unangenehmen Gegenspieler. So wird das Fernseh-Team des NDR bei den Dreharbeiten zur Sportclub Story über Löw Zeuge davon, wie der Ex-Bundestrainer an der Mittellinie etwas übermotiviert zur Grätsche ansetzt und seinen Widersacher aufs Plastikgrün schickt.
"Du brennst als Nationaltrainer ein bisschen aus"
Mit diesem Ehrgeiz und dieser Verbissenheit, die er heute noch bei einem sportlich irrelevanten Hallenkick mit Freunden zeigt, hatte Löw auch 15 Jahre lang das Amt des Bundestrainers ausgefüllt - und das ohne Rücksicht auf seine eigene Gesundheit.
"Du brennst auch ein bisschen aus, wenn du Nationaltrainer bist. Du bist ständig unterwegs, du bist immer unter Beobachtung, das kostet schon Kraft. Man hat dann manchmal schon Tendenzen, paranoid zu werden, weil man sich verfolgt und beobachtet fühlt", erklärte Löw, der am 3. Februar seinen 65. Geburstag feiert.
"Man hat dann manchmal schon Tendenzen, paranoid zu werden, weil man sich verfolgt und beobachtet fühlt."
— Jogi Löw über seine Zeit beim DFB
Damit ist der aus Schönau im Schwarzwald stammende Fußballlehrer noch immer ein Jahr vom Beginn der besten Zeit seines Daseins entfernt. Zumindest, wenn es nach dem von Löw sehr gemochten Sänger Udo Jürgens geht. Der sang schließlich in einem seiner größten Hits: "Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an..."
Ein Song von Udo Jürgens als Lebensmotto
Aber nicht dieser, sondern ein anderer Song von Jürgens hat es Löw angetan. "Es gab da mal ein Lied von ihm: 'Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient.' Und das habe ich mir hinter die Ohren geschrieben. Du bist nicht immer auf Wolke sieben, du bist auch mal unten. Und damit musst du umgehen können", erklärt der Weltmeister-Trainer von 2014.
Eine Aussage, die schon einmal erahnen lässt, dass ihm seine Zeit als Bundestrainer im Haifischbecken Profifußball viel mehr abverlangt hat, als es für Außenstehende zu vermuten war. Alle an den Tag gelegte Souveränität war zuweilen nur geschauspielert. Es habe Phase gegeben, in denen er an seinen Fähigkeiten gezweifelt habe, so Löw: "Trainer zu sein ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle - vom gefeierten Held bis zum Versager. Diese Bandbreite ist da ja irgendwie immer auch vorhanden."
Drei WM- und vier EM-Teilnahmen mit Deutschland
15 Jahre lang war er als Bundestrainer im ebenso fußballverrückten wie kritisch der DFB-Auswahl gegenüberstehenden Deutschland so etwas wie Allgemeingut. Manchmal auch "Freiwild", wenn der Traum von einem Titel geplatzt war. Kritiker sagen, dass Löw bei seinen drei WM- und vier EM-Teilnahmen mit der deutschen Mannschaft mehr Triumphe als den Gewinn der Weltmeisterschaft 2014 hätte erringen müssen.
Aber ist dieses Urteil fair gegenüber einem Mann, der 2004 von Jürgen Klinsmann als Co-Trainer zu einem Engagement beim DFB "überredet" worden war und anschließend gemeinsam mit dem Wahl-Amerikaner und Motivationskünstler praktisch bei Null anfangen musste? Tendenziell eher nein. Denn viele der Spieler, mit denen Löw 2014 in Rio den begehrtesten Fußball-Pokal der Welt holte, hatten einen Reifeprozess durchmachen müssen und waren eben erst dann in Brasilien auf dem Zenit ihres Könnens.
Nichtnominierungen: "Das geht mir schon nah"
"Meine Gedanken waren damals, wir müssen spielerisch mal so gut sein wie Brasilien oder Spanien. Ich wollte spielerisch etwas entwickeln, mich nicht mehr auf die deutschen Tugenden besinnen, die haben auch andere Mannschaften längst verinnerlicht gehabt", sagt Löw mit Blick auf seine Anfänge als Bundestrainer.
Nachdem er als Klinsmann-Assisent bereits nahezu die komplette Trainingsarbeit gemacht hatte und so etwas wie das Taktik-Mastermind hinter dem "Sommermärchen 2006" gewesen war, verfeinerte er den Spielstil der DFB-Auswahl unter eigener Regie in den darauffolgenden Jahren kontinuierlich. Und dabei musste er auch Entscheidungen treffen, die ihm schlaflose Nächte bereiteten. Eine davon war, Stürmer Kevin Kuranyi seine Nichtnominierung für die WM 2010 mitzuteilen, weil dieser von seiner Art, Fußball zu spielen, nicht zum Team passte.
"Das ist das Schwierigste, was ein Trainer machen muss, gerade auch bei der Nationalmannschaft, weil da auch Träume zerstört werden. Und das geht mir auch schon nah", erklärt Löw.
Löw "verzockt" EM-Halbfinale gegen Italien
Nachdem er bei der EM 2008 im Finale und bei der WM 2010 in der Vorschlussrunde mit der DFB-Auswahl jeweils an Spanien gescheitert war, folgte bei der Europameisterschaft 2012 das Aus im Halbfinale gegen Italien. Die 1:2-Pleite gegen die "Squadra Azzurra" nimmt Löw dabei im Nachhinein auf seine Kappe. "Da habe ich mich verzockt und vertan", erklärt er mit Blick auf die Aufstellung.
Löw war nach dem Turnier angeschlagen, öffentlich umstritten. Denn nach Jahren der Aufbauarbeit war die Erwartungshaltung an die Mannschaft gestiegen und die Sehnsucht nach einem Titel riesengroß.
Bodenhaftung im Moment der Sternstunde
Löw musste bei der WM in Brasilien liefern, das stand vor Turnierbeginn fest. Und Löw lieferte. Er stellte das Team taktisch ideal ein und optimal auf. So ging die Maßnahme, mit vier etatmäßigen Innenverteidigern in der Abwehrkette zu spielen, voll auf. Zwar war der Weg ins Semifinale etwas holprig, dann aber folgte der geradezu monumentale 7:1-Erfolg gegen Gastgeber Brasilien. Bereits zur Halbzeit führte Deutschland mit 5:0.
Und Löw gab seinen Spielern vor Beginn des zweiten Abschnitts mit auf den Weg, die völlig frustrierten Brasilianer keinesfalls lächerlich zu machen. Respekt - das war für den Bundestrainer nicht nur in diesem Moment ein hohes Gut. Bescheidenheit, Bodenständigkeit und Demut hatten ihm seine Eltern gelehrt. Er war stets bemüht, diese Werte auch an seine Spieler weiterzugeben.
Flucht in die Einsamkeit nach WM-Sieg
Löw traf bei der Mannschaft den richtigen Ton. Die Spieler zerrissen sich für ihn und Deutschland wurde durch einen 1:0-Erfolg im Finale gegen Argentinien Weltmeister. Zehn Jahre Aufbauarbeit, zehn Jahre nahe der völligen körperlichen und mentalen Erschöpfung hatten ein glückliches Ende gefunden. Und was machte der Architekt des Triumphes kurz nach dem Schlusspfiff? Er suchte im Bauch des Maracanã-Stadions die Einsamkeit!
"Ich musste mich kurz zurückziehen, habe mich auf der Toilette eingeschlossen, ich musste für mich allein sein", verrät Löw: "Ich habe so langsam gemerkt, dass ich leer bin."
Große innere Leere nach Triumph in Rio
Während Löw in Deutschland gefeiert und verehrt wurde, versuchte er alleine auf Sardinien das Erlebte zu sortieren und zu begreifen. Aber umso mehr er über den WM-Sieg nachdachte, um so schlechter ging es ihm. "Wenn man mir vorher gesagt hätte, du wirst Weltmeister, denn hätte ich gesagt, ich bin der glücklichste und zufriedenste Mensch auf dieser Welt. Dem war aber nicht so. Deswegen war ich auch ein bisschen verwirrt", erzählt Löw. "Manchmal ist es so, dass man im Erfolg die größten Bedenken hat, was die Zukunft betrifft", ergänzt er im nachdenklichen Ton.
Den größten aller Fußball-Triumphe zu bestätigen, das war nach Rio die Aufgabe für Löw, seinen Stab und vor allem die Spieler. Und zudem fehlte noch ein EM-Sieg in der Löwschen Sammlung. Aber auch beim kontinentalen Turnier 2016 in Frankreich war wieder im Semfinale Schluss.
Löw wurde nach dem WM-Sieg in Rio in Deutschland gefeiert, fühlte sich aber ausgebrannt und leer.
"Mission Titelverteidigung" endet im Desaster
Es sollte aber noch bitterer kommen für den Bundestrainer und sein Team. Zwar konnte 2017 der Erfolg beim (sportlich nur bedingt relevanten) Confed Cup gefeiert werden, dafür aber ging die "Mission Titelverteidigung" bei der WM 2018 in Russland komplett schief. Schon nach der Vorrunde musste das DFB-Team nach Hause reisen, eine Schmach für die Mannschaft und ihren Coach.
Löw blieb trotzdem im Amt. Zum einen, weil er sich so nicht verabschieden wollte. Zum anderen mangelte es den DFB-Oberen an Mut, den Weltmeistertrainer seiner Aufgaben zu entbinden. Dabei sagt selbst Löw heute: "Der Zeitpunkt um aufzuhören wäre eigentlich 2018 besser gewesen."
Abschied nach Achtelfinal-Aus gegen England
Stattdessen aber betreute er das Team auch noch bei der EM 2021. Nachdem die Mannschaft mit Ach und Krach das Achtelfinale erreicht hatte, war dort dann gegen England Endstation. "Wir haben es nicht mehr geschafft, eine funktionierende Mannschaft aufs Feld zu schicken", gibt Löw heute zu.
"Vielleicht war ich da manchmal zu verkrampft und übertrieben ehrgeizig, weil so ein Erfolg auch gierig macht."
— Jogi Löw über die verpasste Chance, rechtzeitig abzutreten
Er hätte sich einen besseren Abschied vom DFB-Team gewünscht, stand sich dafür jedoch nach eigener Aussage auch selbst im Weg: "Vielleicht war ich da manchmal zu verkrampft und übertrieben ehrgeizig, weil so ein Erfolg auch gierig macht. Du willst da oben bleiben, an der Spitze der Welt, wo dich alle anderen jagen."
Löw hofft auf Engagement bei WM-Teilnehmer
Nach seinem Aus als Bundestrainer war Löw Privatier. Ein paar Angebote lehnte er in den vergangenen Jahren ab. Nun ist er wieder arbeitssuchend. Oder besser gesagt: gesprächsbereit. "Ich bin noch nicht für alle Ewigkeit in Rente", sagt er. Sein Wunsch: Ein Engagement bei einem Teilnehmer der WM 2026. "Das ist schon ein Ziel", erklärt Löw.
Und wenn es nach seinem langjährigen Manager Harun Arslan geht, darf es dann auch gerne eine Land mit Titelambitionen sein: "Wenn der Präsident vom brasilianischen Fußball-Verband anruft, dann würde ich mir das sehr gerne anhören und nicht auflegen."
Der den schönen Fußball liebende Trainer Löw und die für ihren schönen Fußball bekannte "Seleção" - das könnte gut passen. Und wenn es nichts wird mit dem erhofften WM-Engagement? Dann kann sich Löw ja immer noch mit seinem Lieblingssong "Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient" von Udo Jürgens trösten. Denn dort heißt es unter anderem: "Was du erkämpft hast, kann dir keiner rauben."
Zehn Jahre danach haben sich Reporter des NDR auf eine Spurensuche begeben: an die Orte des Geschehens, zu den Akteuren von damals.
Die Sportschau-Dokumentation "Wir Weltmeister" und der gleichnamige Podcast sind das Ergebnis dieser Reise.
Alle Folgen des Podcasts "Wir Weltmeister: Auf der Suche nach 2014" gibt es ab sofort in der ARD Audiothek.
Die vierteilige Doku-Serie "Wir Weltmeister: Abenteuer Fußball-WM 2014" erscheint am 22. Mai in der ARD Mediathek.
Dieses Thema im Programm:
Sportclub Story | 26.01.2025 | 23:35 Uhr