Para-Schwimmer André Brasil Schadenersatz-Urteil gegen IPC könnte Folgen haben
Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) muss dem früheren Para-Schwimmer André Brasil Schadenersatz zahlen. Es ist das erste Urteil seiner Art und könnte große Auswirkungen für den Para-Sport haben.
Der brasilianische Schwimmer André Brasil hat vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf Schadenersatzansprüche gegenüber dem IPC geltend gemacht. In dem Prozess, in dem es um die Klassifizierung Brasils und den dadurch folgenden Ausschluss von paralympischen Wettbewerben ging, entschied das Gericht am 1. Februar 2023, dass der ursprünglich teilnahmeberechtige Weltklasse-Schwimmer nicht ohne Übergangsfrist aus dem Para-Sport hätte ausgeschlossen werden dürfen.
In vielen weiteren Streitpunkten gab das Gericht dem IPC zwar Recht, trotzdem ist das Urteil mehr als ein Teilerfolg für Brasil.
In dem Verfahren stellte das OLG Düsseldorf fest, dass das IPC durch die außerordentliche Bedeutung der Paralympischen Spiele eine "marktbeherrschende Position" gegenüber Athletinnen und Athleten innehabe. Deshalb müsse der Weltverband - so das Gericht - bei Regeländerungen, die die Teilnahmeberechtigung betreffen, wie zum Beisiel im Bereich der Klassifizierungen, den Sportlerinnen und Sportlern eine Übergangsfrist gewähren.
Zeitpunkt des Ausschlusses ist entscheidend
Die Änderung der Klassifizierungsregeln im Para-Schwimmen trat inmitten des vierjährigen paralympischen Zyklus' zwischen den Spielen von Rio 2016 und Tokio 2020 in Kraft. Brasil, der nach der neuen Klassifizierung ausgeschlossen wurde, entgingen unter anderem Einnahmen durch Sponsoring. Diese entgangenen Einnahmen stehen Brasil nun als Schadensersatz zu.
Zum Jahresbeginn 2018 trat eine neue Klassifizierungsordnung in Kraft, nach der sich alle Athletinnen und Athleten im Para-Schwimmen neu klassifizieren mussten. Brasil, der seine gesamte Karriere in die Wettkampfklasse S10 eingeordnet wurde, war nach der neuen Klassifizierung, die im April 2019 im Zuge der Para-Schwimmweltmeisterschaften stattfand, plötzlich für alle paralympischen Wettbewerbe "nicht teilnahmeberechtigt".
Seine Karriere, die er in Tokio bei den Paralympischen Spielen 2020 mit weiteren Medaillen beenden wollte, war von einem auf den anderen Tag vorbei.
André Brasil: Prägende Figur des Para-Sports
André Brasil, der in seiner Kindheit an Polio erkrankt war, war einer der erfolgreichsten Para-Sportler weltweit. 14 Jahre war er Teil der brasilianischen Nationalmannschaft und hat 32 Medaillen bei fünf Schwimm-Weltmeisterschaften und 14 Medaillen bei drei Paralympischen Spielen gewonnen.
Brasil erhebt Vorwurf: "Klassifizierung nicht professionell"
Der heute 38-Jährige klagte gegen die Entscheidung des Weltverbands World Para Swimming (WPS). Der Verband steht unter der Leitung des IPC und ist unter anderem für die Klassifizierung im Para-Schwimmen zuständig. Das brasilianische Paralympische Komitee (CBP) schloss sich der Klage an. Da das IPC seinen Sitz in Bonn hat, wurde der Fall in Deutschland verhandelt.
Die Klägerseite stellte unter anderem die Beurteilung des Klassifizierungs-Gremiums als auch den Ablauf der Klassifizierung in Frage. Bei den Untersuchungen wurden laut Aussage der Kläger keine medizinisch-technischen und analytischen Hilfsmittel eingesetzt. Außerdem seien die Gremien nicht professionell und adäquat für die neu in Kraft getretene Klassifizierung ausgebildet gewesen.
Der Vorwurf zusammengefasst: Die Klassifizierung würde der heutigen Professionalität des Para-Sports und der von den Athletinnen und Athleten nicht gerecht.
Brasil verpasst die Teilnahmeberechtigung um einen Punkt
In seiner Klassifizierungsuntersuchung erhielt Brasil 286 von möglichen 300 Punkten - genau einen Punkt zu viel und gleichbedeutend mit seinem Ausschluss. In einem solchen Fall sehen die Klassifizierungsregeln des WPS eine erneute Untersuchung vor. Eineinhalb Stunden nach der ersten Klassifizierung wurde Brasil erneut untersucht. Zwei der drei Prüfer wurden ausgetauscht, der Vorsitzende des Gremiums blieb allerdings bestehen. Das Ergebnis: Erneut exakt 286 Punkte - die Entscheidung blieb bestehen.
Brasil fühlte sich durch die Entscheidung betrogen und empfindet das Klassifizierungssystem, insbesondere die Untersuchungen an sich, als unfair und fehlerhaft, wie er im Interview gegenüber der Sportschau sagte. "Wieso sollte ich glauben, dass das System funktioniert? Wenn ich von den gleichen Menschen untersucht wurde, die dieselben Informationen zur Verfügung hatten? Ist es so möglich, meine Behinderung realistischer oder anders einzuschätzen? Sie geben mir exakt dieselbe Punktzahl in zwei Klassifizierungen, zwischen denen eineinhalb Stunden liegen."
Brasil hätte sich zudem gewünscht, dass in seiner zweiten Untersuchung andere und tiefergehende Methoden und Analysen angewendet worden wären. Die Möglichkeit, medizinische oder bewegungsanalytische Gutachten eigenständig einzureichen, war zudem nicht gegeben.
Gericht folgt der Einschätzung des IPC
In einer Stellungnahme gegenüber der Sportschau widerspricht das IPC und sagt: "Die Klassifizierung des Athleten wurde von zwei unabhängigen internationalen Klassifizierungsgremien vorgenommen und anschließend von der unabhängigen Berufungskommission für Klassifizierung bestätigt."
Das OLG Düsseldorf folgte dieser Einschätzung und urteilte zugunsten des IPC, sah keine inhaltlichen oder verfahrenstechnischen Fehler in der Klassifizierung von Brasil.
"Das Urteil stärkt die Rechte von Para-Athleten"
Dabei ist es nicht nur die inhaltliche Entscheidung, die Alexander Engelhard, Anwalt von Brasil, kritisch sieht. Auch in Bezug auf die Rechte der Athletinnen und Athleten sieht der Anwalt beim IPC Nachholbedarf: "Bezogen auf die Klassifizierung möchte das IPC selbst darüber entscheiden, ob ein Mensch behindert genug ist, um an paralympischen Wettbewerben teilnehmen zu dürfen, und es möchte selbst darüber entscheiden, welche Sportler in welchen Klassen gegeneinander antreten dürfen. Echte Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Klassifizierungsentscheidungen gibt es nach dem IPC-Regelwerk nicht."
In der Tat enthält der "Code of Classification" des IPC eine Klausel, die die Athletinnen und Athleten beschränkt, die Klassifizierung juristisch anzufechten. Das Regelwerk sieht lediglich eine Überprüfung von Verfahrensfehlern vor einem IPC-Verbandsgericht vor. Das OLG Düsseldorf entschied, dass diese Rechtswegbeschränkung unwirksam ist und räumte dem Athleten die Klagemöglichkeiten vor staatlichen Gerichten ein.
"Das Urteil stärkt die Rechte von Para-Athleten", stellt Alexander Engelhard fest und verdeutlicht: "Das IPC darf Para-Athleten nicht untersagen, gegen Klassifizierungsentscheidungen vor staatlichen Gerichten oder unabhängigen Schiedsgerichten vorzugehen."
Ähnlich wurde zuvor auch im Fall der beiden Para-Snowboarderinnen Brenna Huckaby und Cécile Hernandez geurteilt, die im Vorfeld der Winterspiele in Peking 2022 ebenfalls gegen das IPC klagten. Das IPC sieht in dieser Hinsicht keinen Zusammenhang zwischen den beiden Urteilen.
Ein Fall für den Bundesgerichtshof in Karlsruhe?
Gegenüber der Sportschau zeigte sich das IPC gelassen auf die Frage, ob womöglich auch andere Athletinnen und Athleten Schadenersatz verlangen könnten. Man sei "nicht besorgt über künftige Rechtsstreitigkeiten als Folge dieses Falles".
Dabei gibt es laut Anwalt Engelhard weitere "Para-Athleten, die aufgrund einer Neuklassifizierung ohne Übergangsfrist vom Para-Sport ausgeschlossen wurden". Auch ihnen könnten nach seiner Einschätzung Schadenersatzansprüche zustehen.
Das dürfte erklären, warum das IPC zwischenzeitlich angekündigt hat, den Fall in nächster Instanz vor dem Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe weiterverhandeln zu wollen. Vor allem, um die Schadenersatzzahlungen anzufechten. Sollte der BGH den Prozess zulassen, erwägen Engelhard und Brasil gleichermaßen, auch alle anderen Aspekte des OLG-Urteils erneut durch das Gericht prüfen zu wollen. Es geht ihnen, so Engelhard, um ein "professionelleres und objektiveres Klassifizierungssystem, das Para-Athleten in den Mittelpunkt stellt und der fundamentalen Bedeutung der Klassifizierung für den Para-Sport gerecht wird".
Brasil: "Rausgeworfen, als wäre ich ein Niemand"
"Der Sport hat mich rausgeworfen, als wäre ich ein Niemand. Ich habe mein gesamtes Leben für den Sport gegeben und dafür gearbeitet, zu beweisen, dass Menschen mit Behinderung mehr verdienen", sagte Brasil: "Entschuldigen Sie die Worte: Sie (das IPC) haben mich wie Dreck behandelt. Manchmal ist es wirklich hart. Es dauert nun schon sehr lange. Aber ich bin mir sicher, dass Gott einen Plan für mich hat. Mich wird das nicht mehr betreffen, aber alle anderen, die folgen. Ich möchte versuchen, es dem IPC zu zeigen."
Die Rufe nach Reformen werden nicht abnehmen. Der Fall Brasil besitzt viel Sprengkraft. Für das Klassifizierungssystem als solches, aber auch für das IPC im Ganzen. Der ehemalige Schwimmer könnte so zu einem Wegbereiter eines neuen Systems werden.