Straßenrennen der Frauen Kristen Faulkner holt sensationell Rad-Gold
Riesen-Überraschung im Straßenrennen der Frauen: Die US-Fahrerin Kristen Faulkner profitierte vom taktischen Zaudern der Favoritinnen und holte sich den Olympiasieg. Marianne Vos und Topstar Lotte Kopecky blieben nur Silber und Bronze.
93 Fahrerinnen aus aller Welt waren um Punkt 14 Uhr am Fuß des Eiffelturms ins Rennen gestartet. Es galt, nach dem Olympiasieg der Österreicherin Anna Kiesenhofer 2021 die Rad-Königin von Paris 2024 zu finden. Als Top-Favoritin ging Weltmeisterin Lotte Kopecky aus Belgien ins Rennen, ihre stärksten Konkurrentinnen wurden mit Demi Vollering und Lorena Wiebes identifiziert, die beide aus den Niederlanden kommen.
Die größten Aussichten aus deutscher Sicht sollte Klassiker-Spezialistin Liane Lippert haben - so wurde vermutet. Die deutsche Meisterin von 2022 und 2023 war nach einem Ermüdungsbruch im Winter zuletzt rechtzeitig wieder in Form gekommen. Letztlich fuhr sie lange vorn mit, konnte aber nicht mehr mithalten, als in der Entscheidungsphase vorn die Post abging.
Lippert fehlt nach Defekten die Kraft
"In den Kopfsteinpflasterabschnitten ist mir dreimal nacheinander die Kette abgesprungen und ich musste mich immer wieder rankämpfen. Das hat so wehgetan, dann war ich allein unterwegs und habe Krämpfe bekommen", sagte Lippert. "Mit der Platzierung bin ich nicht zufrieden. Ich hatte einen schwachen Moment, das ist so schade."
158 schwere Kilometer standen vor den Athletinnen, allgemein wurde erwartet, dass die Entscheidung auf den letzten 50 Kilometern fallen würde, wenn auf einem dann dreimal zu fahrenden Rundkurs ums Pariser Stadtzentrum ebenfalls dreimal der Anstieg nach Montmartre im Profil stehen würde.
Hashimi-Schwestern aus Afghanistan mutig vorneweg
Es begann also, wie von eigentlich allen Experten erwartet: Die Favoritinnen hielten sich erst einmal zurück. Stattdessen sorgte ein halbes Dutzend von Außenseiterinnen für die ersten Schlagzeilen. Denn sie machten sich als Ausreißergruppe aus dem Feld davon, hatten bald gut fünf Minuten Vorsprung auf die Favoritinnen herausgefahren. Unter ihnen kurioserweise mit den beiden Hashimi-Schwestern Yulduz und Fariba zwei Starterinnen aus Afghanistan.
Die beiden Schwestern - aufgewachsen in einer nördlichen Provinz Afghanistans - verließen 2020 nach der Machtübernahme der Taliban ihr Heimatland und fanden mit Hilfe der befreundeten italienischen Ex-Weltmeisterin Alessandra Cappellotto eine neue Heimat in Norditalien. Mit der Trainingsunterstützung Cappellottos steigerten sie sich rasch und holten sich 2022 bei einem in der Schweiz ausgetragenen Rennen für die 50 im Exil lebenden afghanischen Radsportlerinnen die Qualifikation für Paris 2024.
60 km vor dem Ziel - die ersten Attacken machen das Rennen schwer
60 Kilometer vor dem Ziel war es mit der Zurückhaltung im Hauptfeld aber vorbei. Altmeisterin Marianne Vos aus den Niederlanden - Olympiasiegerin 2012 in London - eröffnete die heiße Phase des Rennens mit gleich mehreren Attacken, der diverse Angriffe anderer Fahrerinnen folgten. Es galt, eventuell eine Chance für eine Soloflucht zu starten, alternativ aber zumindest das Rennen schneller und damit schwerer zu machen.
Für die Spitze bedeutete das auch: Ihre Flucht war bald beendet. 47 Kilometer vor dem Ziel war auch Fariba Hashimi wieder eingefangen, die noch versucht hatte, mit Hanna Tserakh aus Belarus eine Flucht im Duo zu inszenieren.
Spitzengruppe mit Lippert an Montmartre
Im ersten Anstieg hinauf nach Montmartre zeigte sich dann auch Liane Lippert vorn. Die 26-Jährige steckte in einer neunköpfigen Spitzengruppe, der auch Marianne Vos und die Italienerin Elias Longo Borghini angehörten. Lotte Kopecky, die kurz zuvor von einem Sturz im Peloton aufgehalten worden war, schaffte bald per Solo-Zwischensprint den Anschluss.
Das gelang Vollering und Wiebes nicht - die beiden schnellen Niederländerinnen versuchten anschließend verzweifelt, eine Verfolgergruppe zu inszenieren, um noch einmal zurückzukommen.
Britinnen zu dritt in der Spitzengruppe
Ganz vorn hatten sich vor allem die Britinnen eine ausgezeichnete Ausgangsposition erarbeitet - sie waren gleich zu dritt in der Zehngruppe vertreten, was enorme taktische Möglichkeiten ergab. Während Elizabeth Deignan vorn Tempo machte, konnten sich Georgi Pfeiffer und Anna Henderson hinten etwas schonen.
Bei der zweiten Durchfahrt an der Basilika Sacré-Cœur vorbei war es mit Hendersons Zurückhaltung vorbei. Die 25-Jährige vom Team Jumbo Visma wagte einen Angriff und setzte sich tatsächlich einige Meter ab. Kopecky setzte nach, Georgi Pfeiffer auch. Diese Attacke kostete Henderson so viel Kraft, dass sie anschließend den Kontakt zur Spitzengruppe ganz verlor - ebenso wie ihre Teamkollegin Deignan - die Britinnen hatten ihren taktischen Vorteil vorerst verspielt.
20 km vor dem Ziel - Lippert muss reißen lassen
20 km vor dem Ziel schauten sich die verbliebenen Frauen in der Spitzengruppe an, das Tempo ging in den Keller. Henderson und Deignan kehrten zurück und vor allem: Von ganz hinten verkürzte die beste Sprinterin im Feld, Lorena Wiebes, ihren Rückstand - sie lag nur noch 30 Sekunden hinter der Spitzengruppe. Bitter aus deutscher Sicht: Genau in dieser Phase verließen Liane Lippert ihre Kräfte - sie fiel zurück.
Es wurde immer spannender: Plötzlich lagen die Ungarin Blanka Vas und die 37-jährige Marianne Vos vorn - 20 Sekunden vor den anderen. Aber sie mussten auf Lotte Kopecky achten. Die setzte sich ihrerseits aus der immer mehr zerbröselnden Gruppe ab nach vorn. Bei der dritten Auffahrt nach Sacré-Cœur lag Kopecky mit der US-Amerikanerin Kristen Faulkner nur noch sechs Sekunden hinter dem Führungsduo.
Faulkner nutzt das Zaudern der Großen
Nun aber wurde es flach - Vas und Vos hatten hier ihre Stärken schon gezeigt. Und sie hielten auch diesmal das Duo der Verfolgerinnen auf Distanz. Aber nur bis zur Seine, drei Kilometer vor dem Ziel. Dann waren die vier zusammen unterwegs und machten die drei Medaillen unter sich aus.
Vos und Kopecky schauten sich an und diesen Moment nutzte Kristen Faulkner. Sie zog davon und die anderen blieben sitzen. Weder Kopecky noch Vos reagierten, ließen die US-Starterin fahren. Und die fuhr beinahe ungläubig lachend als Erste über die Ziellinie. Die verbliebenen drei sprinteten um Silber und Bronze - das Fotofinish zeigte: Vos hatte eine Reifenbreite Vorsprung vor Kopecky und holte sich Silber. Die unglückliche Ungarin Vas ging ganz leer aus.