Exklusives ARD-Interview Caster Semenya: "Es kann in den Selbstmord führen"
Die zweimalige Olympiasiegerin Caster Semenya schildert in einem exklusiven Interview mit der ARD, welchen krassen Effekt Leichtathletik-Regeln auf ihr Leben haben und wie sie die Diskussionen über Geschlechteridentität in Paris erlebt. Für ihre Kritiker hat sie kein Verständnis.
Man kann nur erahnen, wie sich Caster Semenya im Stade de France fühlen muss. Oben auf der Tribüne statt unten auf der olympischen Laufbahn. In Paris mitten im Trubel der Spiele und trotzdem ausgeschlossen von der großen Show.
Caster Semenya, die zweimalige 800-Meter-Olympiasiegerin aus Südafrika, würde mit ihren inzwischen 33 Jahren immer noch gern mitlaufen, darf aber nicht, seit der Leichtathletik-Weltverband World Athletics vor fünf Jahren Regeln einführte, die intersexuelle Läuferinnen wie Semenya zwingen, ihren natürlich erhöhten Testosteronspiegel pharmazeutisch zu senken, weil er ihnen unlautere Wettbewerbsvorteile bringe.
"Ich denke dran, wie unfair ich behandelt wurde. Das geht mir dann immer noch ziemlich nahe. Manchmal bin ich auch ein bisschen wütend", sagte Semenya der ARD in einem exklusiven Interview in Paris: "Manchmal kommt der Gedanke auf: 'Ich hätte dabei sein können, Medaillen gewinnen können'. Aber jetzt ist das Wichtigste für mich, dass ich andere Frauen unterstütze, die an den Wettkämpfen teilnehmen."
Semenya will Coes Nachfolgerin werden
Und nicht nur das: In dem ARD-Interview sagt sie sehr überlegt und deutlich, dass sie künftig im Weltverband entscheidend gestalten will. Caster Semenya will Präsidentin von World Athletics werden. "Ja, ganz sicher", sagt sie, "ich arbeite an meiner Kandidatur für die Präsidentschaft." Das Mandat vom Amtsinhaber Sebastian Coe läuft 2027 aus, seine Wiederwahl ist ausgeschlossen.
Der Anlass Olympia bringt es mit sich, dass ihr ganzer Fall noch einmal aus anderen Perspektiven betrachtet wird. Hier in Paris. Da sind am Montag die Frauen die 800 Meter gelaufen, Semenyas Strecke. Die neue Olympiasiegerin Keely Hodgkinson aus Großbritannien hat dieses Mal 1:56,72 Minuten gebraucht. Aber sie ist die Strecke in diesem Jahr auch schon in 1:54,61 Minuten gelaufen.
Box-Fehde erinnert Semenya an eigene Geschichte
Zeiten wie diese sind geeignet, Zweifel an der Berechtigung des Startverbots für Caster Semenya anzubringen. Schließlich wurde Semenyas Bestzeit vor sechs Jahren einmal mit 1:54,25 Minuten gemessen und ihr Ausschluss damit begründet, sie habe unlautere Wettbewerbsvorteile. So schnell wie sie könnten andere Frauen ohne erhöhten Testosteronspiegel nie laufen. "Die Mädchen sind gut dabei, die Konkurrenz ist gut", sagt Semenya, "da fragt man sich: Was könnte das Problem gewesen sein, dass Semenya 1:54 gelaufen ist?"
Ich bin hier, um sie voll und ganz zu unterstützen.
Außerdem hat Semenya in Paris Augenblicke erlebt, die sie an ihren eigenen Aufstieg einst und an die bitteren Begleiterscheinungen erinnert haben. Es geht darum, wie der Internationale Boxverband IBA und das Internationale Olympische Komitee in Paris eine Fehde auf dem Rücken zweier Boxerinnen ausgetragen haben. "Ich bin hier, um sie voll und ganz zu unterstützen", sagt Semenya.
Vor der größtmöglichen Öffentlichkeit mussten die Algerierin Imane Khelif und die Taiwanesin Lin Yuting ihre geschlechtliche Zuordnung diskutieren lassen. So wie es einst Semenya selbst erlebte, als sie bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2009 ihren Durchbruch feierte und sich als 18-Jährige öffentlich rechtfertigen musste, sie sei kein Mann, sondern eine Frau. Erst war sie zu Hause in Pretoria auf ihr Geschlecht kontrolliert worden, dann kurz darauf ein zweites Mal in Berlin bei der WM.
Semenya kämpft sich seit Jahren durch Gerichtsinstanzen
Die Ergebnisse hatten Sportfunktionäre durchsickern lassen. Über Semenya wurde also bekannt, sie habe XY-Chromosomen und dadurch einen natürlich erhöhten Testosteronspiegel, ihr fehlten von Geburt an Eierstöcke und Gebärmutter, sie habe aber innenliegende Hoden.
Es ist einfach falsch, junge Frauen so zu behandeln. Den Körper eines Menschen quasi so zu verletzen, besonders den einer jungen Frau.
"Ich erinnere mich sehr klar an die Situation. Ich war gerade 18 Jahre alt und hatte keine Ahnung, was passiert war. Ich hatte kein Gefühl dafür. Es ist einfach falsch, junge Frauen so zu behandeln. Den Körper eines Menschen quasi so zu verletzen, besonders den einer jungen Frau. Ich stamme aus Afrika. In meiner Kultur gilt es als Schande, wenn man so behandelt wird. Wenn gesagt wird: 'Ja, sie mag zwar eine Frau sein, aber nicht Frau genug'. Das kann einen zerstören. Es kann dich in den Selbstmord führen.“
Seit Jahren kämpft sie sich durch Gerichtsinstanzen, um ihre Rechte durchzusetzen. In umstrittenen, vor einem Jahr sogar noch einmal verschärften Regeln verlangt World Athletics zur Herstellung von Chancengleichheit, dass intersexuellen Athleten, die männliche XY-Chromosomen haben, ihren Testosteronspiegel für mindestens zwei Jahre unter 2,5 nmol/Liter senken. Semenya weigert sich, ihren Testosteronspiegel mit pharmazeutischen Mitteln zu reduzieren.
Hoffnung auf ein "positives Ende"
"Es ist sehr enttäuschend, wenn Führungspersönlichkeiten im Sport in einen Bereich vordringen, in dem man gezwungen wird, seinen Körper zu verändern. Wenn man gezwungen wird, sich Behandlungen und Operationen zu unterziehen. Wenn man Medikamente nehmen muss, damit man dazugehören darf. Das ist eine Schande", sagt Semenya.
Das ist falsch. Das muss aufhören. Wir sollten Menschen nicht wie Tiere behandeln.
"Solche Dinge kotzen mich an, wenn ich das mal so sagen darf, es macht mich schon wütend, nur darüber nachzudenken, dass ich gezwungen werde, meinen Körper zu verändern. Dass ich gezwungen werde, Medikamente zu nehmen, die meiner Seele und meinem Körper schaden, die mich für den Rest meines Lebens beeinträchtigen werden. Das ist falsch. Das muss aufhören. Wir sollten Menschen nicht wie Tiere behandeln. Das ist falsch!"
Vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS hatte sie ihr Verfahren verloren. Eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewann sie in der ersten Instanz allerdings: Die Regeln, entschied das Gericht mit knapper Mehrheit, verletzten sie in ihren Menschenrechten und diskriminierten sie. Derzeit ist das Berufungsverfahren vor der Großen Kammer anhängig. Die Anhörung hatte im Mai in Straßburg stattgefunden. "Natürlich hoffe ich auf ein positives Ende", sagt Semenya, "ich glaube an die Arbeit, die wir machen. Wir haben gute Arbeit geleistet, wir verändern Leben."
Kampf für junge Frauen
Semenya läuft und trainiert noch immer. Ihren letzten großen internationalen Sportwettkampf lieferte sie nach einer Pause von fast fünf Jahren 2022 bei der Leichtathletik-WM in Eugene/USA ab. Als die damals gültigen Regeln des Weltverbandes zur Antrittsberechtigung von intersexuellen Frauen nur Beschränkungen für bestimmte Wettbewerbe vorsahen, wich sie von den 800 Metern auf die 5000 Meter aus, schaffte aber mit fast einer Minute Rückstand auf die Siegerin ihres Halbfinal-Laufs nicht den Sprung ins Finale.
In Südafrika nahm sie Anfang dieses Monats an einem Zehn-Kilometer-Straßenlauf teil und belegte in 37:13 den zehnten Platz. Heute sagt Semenya: "Ich bin eine Kämpferin. Ich wurde als Kämpferin geboren. Es liegt mir im Blut, für mein Volk zu kämpfen. Es liegt mir im Blut, für junge Frauen zu kämpfen."