Einzug des afghanischen Olympiateams bei den Olympischen Spielen in Tokio

Geschlechterparität bei Olympia Athletinnen in Afghanistan alleine gelassen

Stand: 08.03.2024 08:52 Uhr

Bei den Olympischen Spielen in Paris starten erstmals genau so viele Frauen wie Männer. Was sich in der Summe gut darstellt, gilt aber längst nicht für alle Nationen - etwa in Afghanistan, wo Athletinnen komplett von der Bildfläche verschwunden sind.

In der Olympischen Charta, die laut IOC Verfassungscharakter haben soll, steht unter Punkt zwei "Mission und Rolle des IOC": "Die Rolle des IOC ist es, zu ermutigen und zu unterstützen, dass Frauen auf allen Ebenen des Sports und in allen Strukturen gefördert werden mit der Perspektive, das Gleichheitsprinzip von Männern und Frauen zu implementieren." 

Geschlechterparität ist - zugegeben - ein extrem hoher Anspruch. Der lässt sich nicht allein dadurch erfüllen, dass unter den Teilnehmenden der Olympischen Spiele in Paris genauso viele Männer wie Frauen an den Start gehen. Denn genau das heißt Gender Parity.

Afghanische Frauen von der Bildfläche verschwunden

Auf dem Weg zu mehr Gleichberechtigung ist das aber eher ein Meilensteinchen als der große Wurf. Immerhin eines, das Frauen im Sport mehr Sichtbarkeit verschafft, sagt Bettina Rulofs, Professorin für Diversitätsforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln: "Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt, um auch mehr Frauen zu zeigen und eine größere Präsenz von Frauen im Sport nach außen zeigen zu können. Aber wir dürfen auf keinen Fall einfach nur bei diesem puren Zählen der Positionen von Athleten und Athletinnen auf dem Spielfeld verbleiben. Wir müssen viel mehr tun." 

Was sich in Summe auf dem Platz gut darstellt, gilt längst nicht für alle teilnehmenden Nationen. Besonders deutlich wird das am Beispiel Afghanistan. Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 sind afghanische Frauen fast komplett von der Bildfläche verschwunden. Auch in der Berichterstattung finden sie wenig Raum.

Eine, die nicht müde wird, darüber zu sprechen, ist Friba Rezayee. Sie ging 2004 als eine der ersten Frauen überhaupt im Judo für Afghanistan an den Start. Ein Platz, den sie und viele andere Frauen sich hart erkämpft haben. Viele von ihnen waren gleichzeitig Athletinnen und Menschenrechtsaktivistinnen. Haben Netzwerke gebildet, um Frauen und Kindern Zugang zu Bildung zu ermöglichen - und darüber zum Sport.

Der harte Kampf um Gleichberechtigung

Auch zu Friedenszeiten war das in Afghanistan nicht ungefährlich. Friba Rezayee musste nur ein Jahr nachdem sie für Afghanistan Olympische Geschichte geschrieben hat, das Land verlassen. Die Familie erhielt Morddrohungen - gerichtet gegen sie und eine ihrer Schwestern, die für einen lokalen TV-Sender als Moderatorin arbeitete.

"Sie wurde vor unserem eigenen Haus ermordet. Aber die Morddrohungen gingen weiter. Gegen meine Familie, gegen mich. Von Fundamentalisten, den Taliban. So vielen anderen fanatischen Männern", erzählt Friba Rezayee im Interview mit der Sportschau. "Wo auch immer meine Schwestern und ich hingingen, wurden wir belästigt - verbal und physisch. Sie haben nicht aufgehört uns zu bedrohen. Wir hätten Schande über die Gesellschaft gebracht, die Familie, die islamischen Werte und die afghanische Kultur." 

Judoka Rezayee: "Fundamentalisten sehen Sport als nicht angemessene Aktivität für Frauen"

Sportschau

Trotz dieser Gefahren haben Frauen in Afghanistan ihre Netzwerke weiter aufgebaut. Haben studiert, sich politisch und sozial engagiert. Auch mit Unterstützung verschiedener Sportorganisationen. Sportlerinnen waren öffentlich laut, selbstbewusst und sichtbar. Sie wollten die Gesellschaft aktiv mitgestalten.

Als die Taliban im August 2021 die Macht wieder übernahmen, waren all diese Träume vernichtet. "Als die zentrale Regierung in sich zusammen fiel, galt das auch für unsere Freiheit, Werte, Errungenschaften und Träume. Es hat sich angefühlt, als ob Afghanistan von einem großen Meteoriten getroffen wurde, der uns 400 Jahre in der Zeit zurückgeworfen hat", sagt Rezayee.

Die Taliban verbaten sofort jegliche sportliche Betätigung von Frauen. Die Sportstätten wurden geschlossen - auch der Dojo, in dem Rezayee einst trainierte. Viele Athletinnen mussten ihre Sportkleidung, Urkunden und Medaillen - Zeugnisse ihrer Errungenschaften und eines neuen, freieren Lebens - vernichten oder verstecken.

Training in Deutschland für das Refugee-Team

Wer konnte, versuchte außer Landes zu kommen. Wie Lina Rassouli, die im September 2021 unter dramatischen Umständen mit Hilfe der Internationalen Judo Federation (IJF) und des Deutschen Judo Bunds (DJB) aus Kabul nach Deutschland geflohen ist. Davor war sie als Judoka weltweit auf Wettkämpfen unterwegs. Sie hat Politikwissenschaften studiert und leitete den Judoclub der Organisation SCAWNO, die sich um Waisenkinder und verwitwete Frauen kümmert. 

Auf Rassoulis privatem Facebook-Profil erinnern zahlreiche Bilder an diese Zeit. Mädchen und junge Frauen in Judoanzügen, mit und ohne Hijab. Einige halten stolz ihre Urkunden in die Kamera.

Seit zwei Jahren ist Lina Rassouli jetzt in Deutschland. Sie ist glücklich, sagt sie, aber wenn sie an die Kinder denkt, die sie zurücklassen musste, wird ihr Herz schwer: "Die Situation ist wirklich schlimm. Ich bin glücklich, dass ich hier bin. Aber im Inneren meines Herzens bin ich es nicht. Meine Familie, meine Kollegen, meine Schülerinnen, all meine Träume sind in Kabul geblieben."

Lina Rassouli trainiert in Deutschland mit dem Refugees Team, das vom IOC unterstützt wird. Sie hätte sogar einen Startplatz für die Olympischen Spiele gehabt. Aber nach einer Verletzung wird sie nicht rechtzeitig fit werden. Für viele afghanische Spitzenathletinnen sind die Refugee Teams die einzige Möglichkeit, an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Denn die allermeisten leben inzwischen im Exil, wo sie sich neben dem Training auch noch um Unterstützung, Bleiberecht und ihren Lebensunterhalt kümmern müssen. Von Gender Parity in einem afghanischen Team können sie nicht mal träumen. 

"Das ist Sportswashing"

Trotzdem wird ungeachtet dieser Situation für Athletinnen - Stand jetzt - ein Team aus Afghanistan bei den Olympischen Spielen in Paris an den Start gehen. Mindestens eine Frau muss auch vom afghanischen Nationalen Olympischen Komitee (NOK) nominiert werden. Denn 2020 hat das IOC die Regel verabschiedet, dass es je einen männlichen und einen weiblichen Flaggenträger geben muss. Ob es darüber hinaus weitere Frauen im Team sein werden, ist fraglich.

Selbst wenn das gelingt, würde es aber nicht annähernd die Realität von Frauen in Afghanistan widerspiegeln, sagt Friba Rezayee: "Das ist Sportswashing. Das zeigt nicht die ganze Realität in Afghanistan und was mit den Frauenrechten dort passiert ist, mit den Menschenrechten und den Rechten von Athletinnen. Sie täuschen die Weltöffentlichkeit. Sie gaukeln vor, dass alles okay ist. Sie belügen die Menschen." 

"Das afghanische NOC antreten zu lassen ist gefährlich"

Sportschau

Exil-NOK nicht unabhängig von den Taliban

Auch Teile des afghanischen NOK leben seit 2021 im Exil. Das IOC selbst hat mehrfach angemahnt, die Situation im Land für Frauen zu verbessern. Aber mehr als einen erhobenen Zeigefinger gibt es bislang nicht.

Denn um überhaupt Athleten und Athletinnen zu den Olympischen Spielen zu bekommen, muss auch das exilierte afghanische NOK mit den Taliban verhandeln, erklärt Waslat Hasrat-Nazimi, Leiterin der Afghanistan-Redaktion bei der Deutschen Welle: "Sie müssen mit den Taliban zu tun haben, einfach auch weil sie mit denen kooperieren müssen, wenn es darum geht, Sportlern aus Afghanistan Visa zu beschaffen, Pässe zu beschaffen. Die Taliban wissen eigentlich über alles und jeden Bescheid, der in das Land kommt oder aus dem Land ausreist."

IOC verweist auf Souveränität der Nationen

Auch wegen dieser Verbindungen forderte Friba Rezayee das IOC in mehreren Briefen und auch öffentlich auf, Afghanistan von der Teilnahme an den Olympischen Spielen auszuschließen. Das IOC sieht sich allerdings nicht in der Lage, Einfluss zu nehmen.

"Wir tun unser Möglichstes, um die Achtung der Menschenrechte für die Menschen zu gewährleisten, auf die wir in unserem Aufgabenbereich Einfluss haben", teilte der zuständige IOC-Direktor James Macleod auf Anfrage in einem Statement mit. "Als Nichtregierungsorganisation hat das IOC weder das Mandat noch die Möglichkeit, die Gesetze souveräner Länder zu ändern. Wir können keine Menschenrechtsfragen lösen, die in die Zuständigkeit der Staaten fallen." 

So aber bleibt die gefeierte Genderparität als kleiner Teil von Gleichberechtigung ein Privileg. Eines, von dem vor allem Sportlerinnen und Sportler in westlichen und europäischen Ländern profitieren. Und eines, dass sich zum Weltfrauentag wunderbar vermarkten lässt und von den eigentlichen Problemen hinter den bloßen Zahlen ablenkt.

Disclaimer: In einer früheren Version des Textes hieß es, der IOC-Direktor James Macleod sei zu einem persönlichen Gespräch nicht bereit gewesen. Diese Darstellung war nicht korrekt. Das IOC hat unsere Fragen schriftlich beantwortet."