Formtiefs und Verletzungssorgen Titelverteidiger Italien startet als Außenseiter
Die Squadra Azzurra, immerhin Titelverteidiger bei der anstehenden Europameisterschaft, geht als Außenseiter in das Turnier. Auch Trainer Luciano Spalletti konnte daran nichts ändern.
Seit vergangenem September ist Luciano Spalletti Trainer der Squadra Azzurra. Nach einem Dreivierteljahr ist klar: Der Meistercoach der SSC Neapel ist kein Wunderheiler. Große Hoffnungen hatte Fußball-Italien in den 65-Jährigen gesetzt, als er einsprang für Europameistermacher Roberto Mancini, der sich nach einer Reihe enttäuschender Spiele Richtung Saudi-Arabien abgesetzt hatte.
Spalletti war gerade zum Trainer des Jahres in Italien gekürt worden und hatte in Neapel gezeigt, dass er auch mit einer nicht überragend besetzten Mannschaft begeisternden Fußball spielen lassen kann. Im Nationalteam klappt das bislang noch nicht. Der formschwache Titelverteidiger geht als Außenseiter in die EURO.
Mit viel Mühe zum EM-Ticket
Nur mit Mühe hat Italien in der Qualifikation den Gruppensieg vor der Ukraine geschafft. Wirklich überzeugend war keines der Spiele. Angesichts der wachsenden Ungeduld im Land erlaubte sich Spalletti vor dem Abflug nach Deutschland den Hinweis: "Niemand sollte vergessen, wo wir herkommen." Nämlich vom Scheitern in der Qualifikation für die WM in Katar, in der sich Nord-Mazedonien als zu große Hürde für den Europameister erwies.
Für Spalletti spricht, dass er vor der EM in Deutschland nicht klagt, auch nicht über die vielen Ausfälle. Unter anderem auf der rechten Angriffsseite. Dem dort eingeplanten Europameister Domenico Berardi von Sassuolo Calcio riss die Achillessehne, kurz vor dem Turnier verletzte sich auch dessen Vertreter, Nicolò Zaniolo von Aston Villa. Links ist Enrico Chiesa eingeplant, Italiens prominentester Angreifer. Der Juve-Stürmer aber spielt seit Monaten unter seinen Möglichkeiten. Von Spalletti als der "Jannik Sinner des italienischen Fußballs" geadelt, konnte Chiesa noch nicht seiner angedachten Rolle als Leistungsträger gerecht werden.
Sturmhoffnungen ruhen auf Scamacca
In der Sturmmitte heißt Italiens Hoffnung Gianluca Scamacca. Der technisch starke Wandspieler ragte in dieser Saison bei Europa-League-Sieger Atalanta Bergamo heraus. Im Nationalteam aber tut sich der 1,95 Meter große Scamacca bislang schwer. Als Alternative setzt Spalletti auf den kampfstarken Matteo Retegui vom FC Genua oder den 1, 72 Meter kleinen Giacomo Raspadori als "falsche Neun" oder Linksaußen. Auch Raspadori aber spielt in Neapel nicht seine beste Saison, war meist nur Ergänzungsspieler.
Italiens Verletzungssorgen - insgesamt fallen sechs Spieler aus, die für den Kader eingeplant waren - treffen auch die Defensive. Routinier Francesco Acerbi von Meister Inter Mailand, von Spalletti als Abwehrorganisator vorgesehen, sagte wegen einer Schambeinentzündung ab. Jungstar Giorgio Scalvini aus Bergamo erlitt kurz vor der EM einen Kreuzbandriss, Linksverteidiger Destiny Udogie von Tottenham Hotspur muss wegen einer Oberschenkelverletzung passen.
Alle Augen auf Dimarco und di Lorenzo
Bis zuletzt hat Spalletti hinten sowohl mit einer Dreier- als auch mit einer Viererkette experimentiert. Alessandro Bastoni und Matteo Darmian von Meister Inter Mailand sind in beiden Alternativen Startelfkandidaten. Torinos Alessandro Buongiorno, der junge Riccardo Calafiori von Italiens Überraschungsteam Bologna oder der nachnominierte Federico Gatti von Juventus gelten als Alternativen.
Auf den Außenbahnen ruhen die Hoffnungen rechts auf Giovanni di Lorenzo (in Neapel einer der Lieblingsschüler Spallettis), links auf dem schnellen und schussstarken Federico Dimarco, einer der Besten in dieser Saison bei Titelträger Inter.
Diskussionen um Fagioli
Im Mittelfeld hat Spalletti im letzten Testspiel gegen Bosnien-Herzegowina eine alte Mancini-Idee entstaubt. Jorginho und Verratti, zwei technisch starke Spielgestalter im hinteren Mittelfeld, waren Italiens Schaltzentrale beim Triumph 2021 in Wembley. Spalletti probierte nun vor dem EM-Start gegen Albanien Ähnliches und ließ an der Seite des zurückgeholten Jorginho den 23 Jahre alten Nicolò Fagioli spielen.
Der Mann von Juventus Turin ist die in Italien meistdiskutierte Personalie im EM-Kader. Fagioli war sieben Monate wegen unterlaubter Sportwetten gesperrt und hat sich in dieser Zeit einer Therapie gegen Spielsucht unterzogen. Erst im Mai lief die Sperre für den Mittelfeldmann ab, gerade noch in den letzten beiden Saisonspielen konnte Fagioli mit Teilzeiteinsätzen Spielpraxis sammeln. Möglicherweise hofft Spalletti, dass sich Geschichte wiederholt. 1982 ist Paolo Rossi wegen Verwicklung in einen Skandal um manipulierte Spiele monatelang gesperrt gewesen, kam mit wenig Spielpraxis zur WM in Spanien - und wurde am Ende Spieler des Turniers. Weiter verzichten muss Spalletti auf Sandro Tonali von Newcastle United. Dessen Sperre, ebenfalls wegen unerlaubter Sportwetten, läuft noch.
Verkrampftes Bemühen um Teambuilding
Ergänzt werden soll Italiens Mittelfeld bei der EURO mit dem dynamischen Inter-Meisterspieler Nicolò Barella, seinem gegen Bosnien starken Mannschaftskollegen Davide Frattesi oder Roma-Kapitän Lorenzo Pellegrini. Letzter hat in der Verteilung der Rückennummern die 10 erhalten. Um diese Nummer gab es während des Trainingslagers eine Motivationsinszenierung à la Graugänse.
Ähnlich wie der deutsche Teambildungsversuch in Katar ("Flug der Graugänse") mutete auch das aktuelle italienische Bemühen um Zusammenhalt etwas verkrampft an. Bei einer Trainingssession ließ Spalletti sämtliche Spieler mit dem Schriftzug "Wir sind alle Nummer 10" auf den T-Shirts auflaufen. Zum Mittagessen in Coverciano kamen dann fünf große Nummer-10-Stars Italiens (Antognoni, Rivera, Baggio, Totti, Del Piero) ins Trainingslager und erzählten von den guten alten Zeiten. Der zweiälteste, Giancarlo Antognoni, erinnerte daran, dass die Squadra Azzurra häufig dann am meisten erreicht hat, wenn am wenigsten von ihr erwartet wurde.