DFB-Team trifft auf Spanien Sportschau-Experte Broich - "Wir brauchen wirklichen Ballbesitz"
Vor dem EM-Viertelfinale der DFB-Elf gegen Spanien analysiert Sportschau-Experte Thomas Broich die Stärken und Schwächen beider Mannschaften. Er empfiehlt einen Wechsel in der deutschen Startelf und sagt: "Wir brauchen nicht nur Entlastung, sondern wirklichen Ballbesitz."
Sportschau: Thomas, Deutschland gegen Spanien im Viertelfinale der EM. Viele sprechen vom vorweggenommenen Finale. Fangen wir mal etwas kleiner an. Wie erwartest Du Spanien von der Grundformation und der Taktik her?
Thomas Broich: Fangen wir mal noch eins vorher an. Ich würde nicht zwingend sagen: vorweggenommenes Finale. Wir haben die Franzosen noch im Turnier. Also, wer immer sich in dem Viertelfinale durchsetzt, muss mutmaßlich erstmal an Frankreich vorbei.
Sportschau: Dann fangen wir ganz klein mit Spanien an, der stabilsten Mannschaft bisher, wie auch Toni Kroos sagt. Wie erwartest Du sie?
Broich: Im klassischen 4-3-3, was sie auch sehr, sehr klassisch tatsächlich interpretieren. Die haben ja eine Fußball-DNA, eine Kultur, eine Philosophie über Jahrzehnte geprägt. Ich erwarte sie ganz klar mit einem Sechser, zwei Achtern, auch wenn die so ein bisschen verrutschen. Fabián spielt ein bisschen tiefer, Pedro einen Tick offensiver.
Sie spielen es relativ breit auch mit den Außenverteidigern, was aktuell auch sehr modern ist, dass die Außenverteidiger fast schon aufgelöst werden zu Sechsern oder Achtern. Auch sehr klassisch sind diese Eins-gegen-eins-Flügelspieler Nico Williams und Lamine Yamal.
Die spanischen Top-Talente Lamine Yamal und Nico Wiiliams Jr.
Sportschau: Was heißt das für die deutsche Mannschaft, die ja vermutlich wieder im 4-2-3-1 antreten wird?
Broich: Es wird unheimlich schwer sein, zu wissen, woher die Gefahr kommt. Dadurch, dass die Spanier traditionell in engen Räumen gut operieren, viel über Rodri durchs Zentrum durchzuzocken - der einfach ein Magnet ist, keinen Ball verliert, immer eine offensive Lösung hat.
Sie sind aber nicht nur angewiesen auf dieses Zentrum. Sie haben die doppelten Flügel, also die Besetzung mit Außenverteidiger und Außenstürmer. Da finden sie auch wunderbare Lösungen, im Zwei-gegen-zwei auf dem Flügel oder sie überladen dann noch mit einem Mittelfeldspieler wie Rodri.
Das ist für Deutschland eklig zu verteidigen, weil von überall her die Gefahr kommen kann. Neuerdings spielen sie ja auch viel in die Tiefe, spielen Chipbälle und diagonale Bälle hinter die Kette, ohne zweimal nachzudenken.
Sportschau: Wärst Du Analyst der Spanier, auf welche Schwächen der deutschen Mannschaft würdest Du hinweisen?
Broich: Wenn man die Supply Chain (deutsch: Lieferkette) abschneidet, also wenn man Toni Kroos kontrolliert, das würde jedem Gegner guttun.
Ich glaube außerdem, dass wir mit den hohen, breiten Außenverteidigern wenig Gefahr im Eins-gegen-eins entwickeln. Mit David Raum vielleicht einen Tick mehr, weil er eben mit seiner Dynamik am Flügel auch mal vorbeiziehen kann. Aber im Grunde wird das deutsche Spiel immer wieder zur Mitte gelenkt. Das ist das, was Deutschland ja auch will, aber das kann Stärke und Schwäche zugleich sein.
Ich glaube, dass Deutschland hin und wieder Probleme hat, sich aus einem Pressing zu lösen. Also von hinten raus so ein ekliges Mann-gegen-Mann über den ganzen Platz oder ein richtig intensives, gieriges, aggressives Anlaufen: Da ist es nicht überall so, dass wir Lösungen finden. Pressing und Gegenpressing ist eine ureigene Stärke der Spanier. Das ist definitiv ein Mittel gegen Deutschland.
Sportschau: Wer so gierig presst, gibt Räume preis ...
Broich: … und wir haben die Spieler, das auszunutzen. Mein favorisierter Wechsel für dieses Spiel wäre dann auch Florian Wirtz statt Leroy Sané, genau aus diesem Grund.
Mit diesem Pressing muss man rechnen, mit diesem aggressiven Gegenpressing vor allem auch. Da sehe ich Wirtz und Jamal Musiala in der Verantwortung, diese Situationen aufzulösen. Die sind so gut in engen Räumen, haben ja diese Links-Rechts-Kombination - la Croqueta, wie die Spanier sagen, das kennen wir von Iniesta noch. Sich so aus ganz engen Räumen zu lösen, ultimative Haken zu schlagen, auch mit Gegner im Rücken zu operieren, über die Außenseite aufzudrehen oder einfach diese Ballkontakte, die diese Pressinglöser sind, mit denen keiner rechnet und die schon den besonderen Spielern vorbehalten sind.
Ich glaube, dass da der Schlüssel zu unserem Spiel liegen wird, weil wir Ballbesitz brauchen werden. Wir brauchen nicht nur Entlastung, sondern wirklich Ballbesitz, wir müssen das Spiel auch in deren Hälfte verlagern. Und da brauchen wir Jungs, die extrem pressingresistent sind.
Sportschau: Wirtz statt Sané, würdest Du noch andere Wechsel vornehmen?
Broich: Ich glaube, dass ein Maximilian Mittelstädt sich in so einem Spiel wohlfühlt, er ist einfach sehr geschmeidig am Ball. Aber ich sehe trotzdem Raum aktuell vorne, weil er eine unheimliche Power hat und vielleicht noch mal eine andere Dynamik hinter die Kette entwickeln kann - mit Flanken dann eben auch. Was ja wahrscheinlich passieren wird, ist, dass Jonathan Tah für Nico Schlotterbeck wieder reinrückt. Ansonsten würde ich die Mannschaft einfach so belassen.
Sportschau: Toni Kroos hat die Schlüsselrolle bei Deutschland, Rodri bei Spanien. Kroos sagt, er sei schon immer der Meinung gewesen, dass Spiele im Zentrum entschieden werden. Liegt er richtig?
Broich: Die beiden sind schon ein bisschen unterschiedlich von der Spielanlage. Rodri agiert wirklich im Druck, im Zentrum, und zieht da die Bälle auf sich, verteilt sie. Bei Kroos ist es so, dass er sich ein bisschen nach außen wegschleicht und von dort Spielmacher ist. Er findet immer wieder Nadelöhre, durch die er Bälle steckt. Toni fintiert ja auch unheimlich gut. Sein erster Kontakt oder diese versteckten Pässe, die er spielt, da weißt du eigentlich nie, wo der nächste hingeht, und auf diese Art und Weise orchestriert er das Spiel auf der Seite.
Aber dann kommt noch obendrauf, dass er sich, wenn er einen Tick zu viel Platz hat, den Ball einmal vorlegt und ihn einfach mal 60 Meter diagonal auf die andere Seite knallt, wo dann vielleicht ein gutes Zahlenverhältnis für uns ist.
Sportschau: Die beiden spanischen Jungstars Nico Williams und Lamine Yamal spielen auf dem Flügel, deutlich weiter außen als Wirtz und Musiala. Was bedeutet das taktisch für das Spiel?
Broich: Es bedeutet eine ganz andere Breite und eine ganz andere Bedrohung für den Raum hinter der Kette. Dadurch, dass die Spanier diese Eins-gegen-eins-Situationen an der Seitenlinie provozieren wollen, haben wir in der Abwehrkette ein bisschen das Problem, dass wir unter Umständen auseinandergezogen werden. Dann entstehen vielleicht Schnittstellen. Und wenn wir die Schnittstellen kompakt halten wollen, dann hat der Flügelstürmer vielleicht ein bisschen mehr Platz, um Tempo aufzunehmen und zu dribbeln. Das wird die ganz große Herausforderung für die deutsche Defensive werden.
Sportschau: Kai Havertz war in aller Munde, aber eigentlich nur, weil viele forderten, er soll aus der Startelf raus, Niclas Füllkrug rein. Seit dem Achtelfinale fordert das keiner mehr. Havertz spielte wenig spektakulär, aber sehr effizient, schuf immer wieder auch Platz für seine Kollegen. Ist er der neue Raumdeuter nach Thomas Müller?
Broich: Ich muss sagen: Ich empfinde ihn als spektakulär. Das ist ein sensationeller Spieler, der der Mannschaft einen wunderbaren Dienst leistet, weil er alles kann. Wenn wir vorher von Pressinglösern gesprochen haben: Das ist auch er. Kai Havertz ist technisch so sauber, dreht in engen Räumen auf, kann mit Gegner im Rücken arbeiten. Er ist groß, sprunggewaltig, kann auch den Ball mal verlängern, und er hat Tiefe. Der ist ja sowas von schnell.
Wenn die Spanier zu gierig sind, dann dreht er einmal rum und beläuft selber die Tiefe. So wie Musiala beim zweiten Tor gegen Dänemark. Das müssen die Spanier immer mitdenken, wenn so ein Spielertyp auf dem Feld steht. Bei aller Qualität von Füllkrug: Aber diese Gefahr gibt es mit ihm einen Ticken weniger. Das ist das, was Havertz so unglaublich wertvoll macht für die deutsche Mannschaft.
Das Gespräch führte Marcus Bark.