Die Schweiz bei der EM Michel Aebischer - Heldwerdung eines oft Übersehenen
Ein Tor, eine Vorlage: Michel Aebischer hat Schweizer-EM-Geschichte geschrieben - auf einer Position, die nicht seine ist. So wurde er zum Hoffnungsträger - auch für das zweite Gruppenspiel in Köln gegen Schottland (Mittwoch, 21.00 Uhr, live im Ersten, im Live-Ticker und in der Radio-Reportage).
In den Stunden nach dem 3:1-Sieg der Schweizer bei der Europameisterschaft gegen Ungarn hat Michel Aebischer viele Nachrichten erhalten. Oft waren es anerkennende Worte, manchmal ergänzt durch ein Video. Dann sah Aebischer sich selbst, wie er Geschichte schrieb. Wie er ein Tor mit einem feinen Pass vorbereitete und wie er später selbst traf, mit einem Schlenzer in die lange Ecke.
Er hat sich das natürlich gerne angeschaut, zweimal, vielleicht dreimal - da war er sich hinterher selbst nicht ganz sicher. Zu oft wollte er sich mit dem Geleisteten aber nicht beschäftigen. Erzählt hat er davon, als er am Montag (17.06.2024) bei einer Pressekonferenz der Schweizer saß. Er sagte: "Sonst schwebt man irgendwohin."
Aebischer, 27, erweiterte die EM-Historie der Schweiz um ein Kapitel. Nie zuvor hatte ein Spieler der "Nati", wie die Schweizer ihre Nationalmannschaft nennen, bei einer Europameisterschaft in einem Spiel ein Tor selbst erzielt und eins vorbereitet. Es war eine Überraschung, schließlich war es für Aebischer im 21. Länderspiel der erste Treffer. Überraschend war auch, dass er überhaupt spielte und auf welcher Position.
Aebischer saß in der "Nati" oft auf der Bank
Im Leben des Fußballers Michel Aebischer war es bislang so, dass er gewissermaßen in zwei Welten lebte: In der einen, bei seinem Verein, dem FC Bologna, ist er unumstrittener Stammspieler im zentralen Mittelfeld. Manchmal war er sogar Kapitän. Er hat in der abgelaufenen Saison nur zwei Serie-A-Spiele verpasst. Demnächst wird er mit Bologna in der Champions League spielen.
Bei der Nationalmannschaft hat Aebischer auf seiner Position viel Konkurrenz: Granit Xhaka, aber auch Denis Zakaria und Remo Freuler. In dieser Welt war er zuletzt immer im Kader, aber wenn es ernst wurde, saß er oft auf der Ersatzbank. Dann stand das erste Spiel bei der EM bevor, und Murat Yakin, der Trainer der Schweiz, hatte eine Idee.
Trainer Yakin hat eine Idee, Aebischer setzt sie um
Er verschob den Flügelspieler Dan Ndoye, den er zuletzt oft als linken Schienenspieler aufgestellt hatte, nach rechts vorne. Auf die linke Seite stellte er stattdessen Aebischer. In den Testspielen habe er den Eindruck gehabt, sagte Yakin, dass die Gegner sich darauf eingestellt hätten, dass Ndoye über links sprintete, dribbelte, flankte. Da habe er reagieren müssen. Außerdem habe Aebischer eine "tolle Saison" gespielt.
Yakin hat sich in diesem Moment als ein Seelenverwandter des Bundestrainers Julian Nagelsmann geoutet. Auch ihm ist das mit dem Momentum wichtig. Beide setzen auf Spieler, die gut in Form sind, die mit ihren Vereinen Erfolg hatten. Auf Aebischer trifft beides zu. Also spielte er.
Auftrag erfüllt: Räume suchen, Räume besetzen
Er habe sich natürlich intensiv auf diese anspruchsvolle Rolle vorbereitet, sagte Aebischer. Anspruchsvoll war die Rolle, weil sie nicht nur die Beine forderte, sondern auch den Kopf. Der Plan des Trainers Yakin sah nicht vor, dass Aebischer den Ndoye machte, dass er sprintete, dribbelte, flankte. Er sollte die Position links an der Außenlinie nicht halten. Er sollte in die Mitte ziehen, die "freien Räume finden".
Als Raumdeuter hat Aebischer noch nicht die Bekanntheit eines Thomas Müller erlangt, aber Talent für diese Rolle hat er ganz offensichtlich. Den Führungstreffer von Kwadwo Duah bereitete er vor, als er von der linken Seite in die Mitte zog. Ein ähnlicher Laufweg war zu beobachten, bevor Aebischer später selbst traf.
Er hat die Szene später im Interview mit der ARD noch einmal nacherzählt. Eigentlich habe er abspielen wollen, sich dann aber anders entschieden. Er sagte: "Ich habe gedacht: Jetzt drücke ich mal ab. Schön, wenn dann das Netz zappelt."
"Man muss sich auch unterordnen können"
Nun ist Aebischer, der in der Nationalmannschaft so oft Übersehene, eine der überraschenden Personalien dieser noch jungen Europameisterschaft. Er ist jetzt ein Schweizer Hoffnungsträger - und es ist schon ein Paradoxon, dass diese Entwicklung für ihn auch negative Auswirkungen haben könnte.
Der nächste Gegner Schottland wird registriert haben, wie Aebischer seine Rolle gegen die Ungarn interpretiert hat. Es ist also möglich, dass sich der Trainer Yakin treu bleibt. Dass er sich einen anderen taktischen Kniff überlegt. Dass Aebischer eine neue Position bekommt - oder seinen Platz vorerst wieder verliert.
Vermutlich würde Aebischer sich darüber ärgern, aber Ärger würde er eher nicht machen. Er sei immer stolz, sagte er, wenn er bei der Nationalmannschaft sein dürfe. Auch dann, wenn er nicht spiele. Das Wichtigste sei eben die Mannschaft und nicht er selbst. "Man muss sich auch unterordnen können. Das kann ich sehr gut."