Achtelfinale bei der EM Italien ist gegen die Schweiz nur der Herausforderer
Der Titelverteidiger quält sich bislang durch die EM. Gegen starke Schweizer muss Italien vieles besser machen - ausgerechnet jetzt fehlt der neue Hoffnungsträger.
Luciano Spalletti war zuletzt oft wütend. Das konnte in den ersten beiden Wochen der EM jeder miterleben, der es wollte. Denn Italiens Trainer gab sich gar keine Mühe, seinen Unmut zu verbergen. Nicht an der Seitenlinie und erst recht nicht vor den Mikrofonen.
Zunächst war es gegen Albanien die Leichtfertigkeit seiner Mannschaft, die den 65-Jährigen verärgerte. Dann quälte ihn gegen Spanien - salopp gesagt - eigentlich alles. Und nach dem letzten Gruppenspiel gegen Kroatien gipfelten seine verbalen Ausbrüche in einer veritablen Wutrede, als sich Spalletti offen und ungebremst mit den Journalisten anlegte.
Titelverteidiger taumelt
Dabei steht Italien im Achtelfinale gegen die Schweiz. Der Titelverteidiger wird im Berliner Olympiastadion die K.o.-Runde eröffnen (29.07.2024, 18 Uhr, Radioreportage und Liveticker). Der Haken? Damit enden die guten Nachrichten bereits. Denn Spalletti und seine "Squadra Azzurra" marschierten nicht in die Runde der letzten 16. Sie taumelten vielmehr durch ihre Gruppe - und nur haarscharf an der großen Enttäuschung vorbei.
Das ist aber nun Vergangenheit. Jedenfalls möchte der Trainer diesen Eindruck gerne vermitteln. Und so startete der Wüterich der Vorrunde eine Charmeoffensive. Er ließ Fans unerwartet beim Training zuschauen, den Journalisten bei der abendlichen Pressekonferenz am Tag vor dem Spiel zeigte er sich als bedachter Coach. Mit Block und Stift saß er da, hörte aufmerksam zu, machte sich dann und wann kurze Notizen und antwortete konzentriert. Ruhe statt Rage. "Wir müssen uns verbessern, um groß denken zu können", gab Spalletti ganz offen zu.
Helfen soll eine neue Leichtigkeit. Die Last ist nämlich abgefallen, ein wenig zumindest, auch beim so erfahrenen Meistertrainer der SSC Neapel selbst. "Wir haben in der Vorrunde ein schwieriges Los bekommen. Das hat die Spieler sehr unter Druck gesetzt - auch ich habe diesen Druck empfunden", sagte er. Es mag die Erklärung für manch wütendes Wort sein. Nun gehe er davon aus, "dass wir befreiter und unbekümmerter spielen können".
Star Chiesa unglücklich in der Rotationsmaschinerie
Das allein wird aber kaum reichen. Spielerisch muss sich etwas tun. Das größte Sorgenkind? Der Sturm. Auch im Land des Achtelfinal-Gegners ist das längst aufgefallen. Italien habe erneut nicht verbergen können - schrieb etwa der Schweizer "Tagesanzeiger" nach dem Last-Minute-Punkt gegen Kroatien -, "dass ihre Stärken nicht in der Offensive liegen".
Es war noch ein mildes Urteil bei der bisherigen Performance des italienischen Angriffs. Spalletti tüftelt erkennbar daran, das unfertige Konstrukt ans Laufen zu bringen. Nachdem das Offensivspiel gegen Spanien zum Inbegriff von Harmlosigkeit wurde - Torschussstatistik: 4:19 -, stellte er nicht nur das Personal, sondern baute gleich das System um.
Spielball dieser Experimente ist Federico Chiesa. Der 26-jährige Offensivmann von Juventus Turin zählt zu den großen Namen im Team und taugt eigentlich als personifizierte Hoffnung, den spröden Angriffsbemühungen den nötigen Esprit zu geben. Doch erst rotierte er zwischen den Flügeln, und als Spalletti gegen Kroatien auf ein 3-5-2 mit Dreierkette und Doppelspitze umbaute, landete der beidfüßige Vielkönner plötzlich sogar auf der Bank. Zugegeben: Gegen Spanien hatte auch Chiesa sein Talent bestens versteckt.
Hoffnungsträger Calafiori fehlt gelbgesperrt
Ganz anders als Riccardo Calafiori. Gäbe es da nicht mit Gianluigi Donnarumma noch den Top-Keeper in Top-Form, müsste der 22-jährige Innenverteidiger das Vakuum der Hoffnungsträger wohl gleich ganz alleine füllen.
Die Spiele bei der EM waren seine Länderspieleinsätze drei, vier und fünf für das italienische Nationalteam. Erst im Juni hatte er bei den letzten Testpartien vor der EM debütiert. Nun umgibt ihn direkt der Vibe der großen italienischen Abwehr-Legenden wie Paolo Maldini oder Alessandro Nesta. Die Experten lieben ihn für sein Spiel und feiern ihn als die sportliche Entdeckung des Turniers.
Weitere Baustellen in der italienischen Abwehr
Das Ärgerliche für alle Freunde der (fußballerischen) Schönheit: In der dritten Minute der Nachspielzeit gegen Kroatien unterband Calafiori einen Konter auf Höhe der Mittellinie. Er sah dafür zu Recht die Gelbe Karte, es war seine zweite in diesem Turnier. Somit fehlt gegen die Schweiz ausgerechnet der Mann, der nicht nur in der Abwehr stabil stand, sondern auch im Spielaufbau wichtige Bälle spielte - und sich nach vorne wagte.
So wie gegen Kroatien, als er sich im Stile Lúcios fünf Minuten nach der Gelben Karte mit letzter Kraft durchs Mittelfeld ackerte, das 1:1 auflegte und so weiter an seiner Heldengeschichte schrieb.
Für Italien ist er nicht der einzige Ausfall. War die Offensive bisher die Problemzone, wackelt nun auch die Abwehrformation. Linksverteidiger Federico Dimarco wird sicher fehlen. Und auch sein Mailänder Teamkollege Alessandro Bastoni - bislang in jedem Spiel in jeder Minute an Calafioris Seite - macht seinem Trainer Sorgen. "Wir müssen es kurzfristig entscheiden. Er hatte Fieber, wir haben versucht, ihn zu schonen", sagte Spalletti. Die Tendenz? Immerhin positiv. "Er hat mittrainiert, es geht ihm besser."
Yakin plant die nächste Überraschung
Es ist also ein fragiles italienisches Konstrukt, das auf die Schweiz treffen wird. Und damit auf ein Team, das selbst das genaue Gegenteil ist. "Wir haben im Moment eine extrem tolle, eine sehr erfolgsorientierte Stimmung", sagte Torhüter Yann Sommer. Sehr kompakt und "mit großem Spirit" verteidige die Mannschaft bislang bei der EM. "Deshalb war es gegen uns bis jetzt sehr schwierig, Chancen rauszuspielen", sagte der 35-Jährige. Nicht zuletzt beim DFB-Team weiß nach dem Vorrundenduell jeder leidvoll, wovon Sommer spricht.
Ist die Schweiz damit nun Favorit gegen Italien? Zumindest Sommer wollte davon nichts wissen. Als er gefragt wurde, lachte er für ein paar Sekunden sein freundliches Yann-Sommer-Lachen und antwortete: "Nein, das würde ich nicht sagen. Wir werden definitiv sehr gut vorbereitet sein. Und trotzdem: Wir spielen gegen den amtierenden Europameister. Das sagt schon einiges."
Schweiz wartet seit 31 Jahren auf Sieg gegen Italien
Aber während eben dieser Europameister in der Gruppenphase zumeist nach Lösungen suchte, hatten die Schweizer sie. Während Spalletti wütete, wurde sein Schweizer Kollege Murat Yakin beklatscht. Weil er unvorhergesehene Ansätze wählte und mit ihnen überzeugte. So sagte auch er selbstbewusst: "Wir sind auf alles vorbereitet. Am Schluss müssen wir den Fokus auf meine Spieler, meine Taktik und mein System setzen. Dass wir den Gegner kontrollieren und auch überraschen werden."
Yakin pausierte kurz, lächelte und schob dann nach: "Hoffentlich." Es wäre der erste Sieg für die Schweiz nach 31 Jahren und elf Spielen gegen den großen Nachbarn. Was Luciano Spalletti wohl auf der Pressekonferenz nach dem Spiel dazu sagen würde?