Ein Jahr vor der EM 2024 Gelingt ein zweites "Sommermärchen"?
Noch ein Jahr, dann wird die Fußball-Europameisterschaft der Männer angepfiffen. Am 14. Juni 2024 trifft die deutsche Nationalmannschaft als Gastgeber in München auf einen Gegner, der noch zugelost werden muss. Genau 18 Jahre wird es dann her sein, dass Oliver Neuville in der Nachspielzeit des zweiten deutschen WM-Gruppenspieles 2006 das entscheidende 1:0 gegen Polen schoss.
"Das war der Dosenöffner", sagt Jana Wiske. Damals, am 14. Juni 2006, war die heutige Professorin und Medienwissenschaftlerin noch als Redakteurin beim Fachmagazin "kicker" tätig: "Das Haus bebte bei dem Tor. Ganz in der Nähe war ein Public Viewing. Die Begeisterung schwappte rüber."
WM 2006: Vier Wochen Euphoriewelle
Die vier Wochen der WM in Deutschland werden aufgrund der Euphoriewelle weiterhin von vielen als "Sommermärchen" bezeichnet. Auch wenn es starke Indizien dafür gibt, dass vor der Vergabe an Deutschland Funktionäre bestochen wurden, die bei anderen Gelegenheiten erwiesenermaßen die Hand aufhielten.
Im Zeitraum zwischen dem Eröffnungsspiel, das Deutschland in München gegen Costa Rica gewann, und dem Spiel um den dritten Platz, das die deutsche Mannschaft gegen Portugal gewann und danach wie ein Weltmeister gefeiert wurde, schwappte aber eine Euphoriewelle über Deutschland, an der sich nur wenige störten.
Gegenwart: "Wenn es so weiter geht wie gerade, sehe ich schwarz"
Wird die EM 2024 mit zehn Spielorten über sieben Bundesländer verteilt ein zweites "Sommermärchen", das erneut Massen begeistert? "Das steht und fällt weitestgehend mit dem sportlichen Erfolg der deutschen Mannschaft", sagt Professorin Wiske, die inzwischen seit Jahren als Medienwissenschaftlerin an der Hochschule Ansbach lehrt.
DFB-Team aktuell - auf der Suche nach dem Erfolgsrezept
"Wenn es so weiter geht wie gerade, sehe ich schwarz", sagt sie. Noch räumt sie der deutschen Mannschaft aber Chancen ein, wieder eine Euphorie zu entfachen, schränkt jedoch ein: "Diese Identifikationsfiguren wie damals sehe ich heute bei den Spielern und dem Bundestrainer nicht."
Deutsches Team damals mit Klinsi, Poldi, Schweini
Damals feuerte Teamchef Klinsi (Jürgen Klinsmann) das Land und die Spieler Poldi (Lukas Podolski) und Schweini (Bastian Schweinsteiger) an, heute sucht Hansi (Flick) nach dem richtigen Personal und System.
WM 2006 in Deutschland: Lukas Podolski (l.) und Bastian Schweinsteiger
Euphorisch blickt kaum jemand auf die EM, dafür war das Abschneiden in den vergangenen Jahren zu schlecht: Aus im Achtelfinale der EM 2020, im Herbst '22 schon zum zweiten Mal nacheinander das Scheitern in der Gruppenphase einer WM.
Radikales Umkrempeln - auch diesmal
Danach krempelte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) einiges um. Es war nicht so radikal wie damals bei Klinsi, aber Olli (Oliver Bierhoff, der damals mit umkrempelte) musste gehen, Rudi (Völler) kam als Übergangssportdirektor mit dem gewaltigen Auftrag, Bierhoffs Marketingmonster "Die Mannschaft" aus den Köpfen der Fans zu streichen und Lust auf die EM zu wecken.
Mehr als vereinzelte öffentliche Trainingseinheiten, fleißiges Autogramme schreiben und Interviews von Völler, in denen er die Begeisterung nicht nur von den Fans, sondern als Vorleistung auch von der Politik fordert, war bisher vom neuen Kurs noch nicht zu spüren. Drei Gegentore und eine Heimniederlage gegen Belgien, nun drei Gegentore und nur ein Unentschieden gegen die Ukraine im 1000. Länderspiel geben mehr Anlass zu Zweifeln als zu Euphorie.
Vor der WM 2006: Alarmstimmung nach 1:4 in Italien
Aber Anzeichen für Euphorie gab es vor der WM 2006 auch nicht. Zwar wurde Deutschland mit dem gefeierten Teamchef "Nur ein' Rudi Völler" Zweiter bei der WM 2002 in Japan und Südkorea. Aber das war eher ein nettes Geschenk für den deutschen "Rumpelfußball", das Torhüter Oliver Kahn allein besorgte.
Bei der EM 2000 schied die deutsche Auswahl ebenso nach der Vorrunde aus wie 2004 in Portugal mit Rudi Völler. Nachdem dessen Nachfolger Klinsmann das erste Testspiel im WM-Jahr 2006 mit 1:4 in Italien verloren hatte, wollten erzürnte Politiker den Teamchef vor den Sportausschuss des Bundestages zerren, um die Pleite zu erklären und Lösungsansätze zu fordern.
Tiefpunkt vor der WM 2006 - Das 1:4 gegen Italien
Dazu kam es nicht. Es kam zum "Sommermärchen", das auch von Jana Wiske als solches empfunden wurde: "Wir hatten einige Gäste auch bei uns zu Hause. Die sagten, dass sie Deutschland so nicht kannten. Ich habe die Stimmung als sehr positiv empfunden, genau nach dem Motto: 'Die Welt zu Gast bei Freunden'."
"Nationalismus und Fußball toxische Mischung"
Dr. Clemens Heni war einer derjenigen, die sich an dem schwarz-rot-goldenen Overkill mit kleinen Flaggen an Autospiegeln, gedruckten Flaggen auf Chipstüten und Backwaren, geschminkten Flaggen im Gesicht und großen Stoffflagen schon damals störten. Heni ist Politikwissenschaftler. Er forscht mit Schwerpunkten über Antisemitismus und die Neue Rechte.
"Das war damals kein gesunder Patriotismus, wie immer behauptet wird. Der ist in Deutschland auch schwer denkbar, weil er immer mit einer Abwertung des Gedenkens an den Holocaust einhergeht", so Heni.
These: Ohne WM 2006 kein Erstarken der AfD
Seine These: Ohne die WM 2006 wären weder die rechtsextreme Pegida ("Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes") noch die AfD so stark geworden. "Nationalismus und Fußball ist eine toxische Mischung in Deutschland. Allein schon, weil beim Versuch, die Begeisterung zu entfachen, missachtet wird, dass weit mehr als 20 Prozent der Einwohner keinen deutschen Pass oder einen Migrationshintergrund haben", so Heni.
Im Anfang Juni veröffentlichten ARD-Deutschland-Trend kommt die AfD auf 18 Prozent, genau wie die SPD, die den Bundeskanzler stellt.
Professorin Jana Wiske sagt, dass es 2006 sicher einfacher fiel, sich für ein großes Fußballturnier zu begeistern, das eben auch nur eine Sportveranstaltung sei: "Wir waren damals sicher sorgenfreier."