Virgil van Dijk auf der niederländischen Jubeltraube
analyse

Die Niederlande bei der EM Die Qualität, gemeinsam zu leiden

Stand: 07.07.2024 07:56 Uhr

Der niederländische Traum nimmt Formen an. Der zweite EM-Triumph nach 1988? Nur noch zwei Siege entfernt. Was für das Team von Ronald Koeman spricht - und woran es gegen die Türkei trotz des Sieges haperte.

Von Johannes Mohren, Berlin

Ronald Koeman stand auf, klopfte Stefan de Vrij zweimal anerkennend auf die Schulter und machte sich auf den Weg vom Pressepodium. Ein "Oh no, no, no" der UEFA-Sprecherin ließ den Bondscoach zwar kurz innehalten, aufhalten konnte sie ihn allerdings nicht.

Eigentlich hätten Koeman und sein Innenverteidiger de Vrij - frisch hinzugestoßen, während sein Trainer schon einige Minuten sprach - noch zusammen Fragen der Journalisten beantworten sollen. Doch die beiden waren nach dem 2:1-Erfolg gegen die Türkei bestgelaunt und sich einig. Fertig sei sein Coach, sagte de Vrij. "Das passt, er ist dran", erwiderte der.

De Vrij glänzt in und außerhalb seiner Komfortzone

Der Spieler und sein Trainer lachten, die UEFA-Sprecherin tat es und auch zu einigen Medienvertretern schwappte die gute Laune über. Für Koeman war es ein scherzhafter Abgang ohne Risiko. Er weiß schließlich, dass er sich auf de Vrij verlassen kann. Das gilt für seine Aktionen auf dem Feld und seine Worte auf dem Pressepodium.

Gegen die Türkei hatte der Verteidiger seine Kernaufgabe wieder sauber erledigt, ja sogar mehr als das. Der 32-Jährige kam auf die besten Zweikampfwerte aller Niederländer. Doch der Immer-Spieler - bei der EM stand er in 450 von 450 möglichen Minuten an der Seite von Kapitän Virgil van Dijk auf dem Platz - überzeugte nicht nur in der Defensive.

Koeman: "Wir hatten ein großes Herz"

De Vrij gelang auch eine statistische Seltenheit. Im seinem 69. Länderspiel erzielte der Serie-A-Spieler von Meister Inter Mailand sein erst viertes Tor. Bei einem EM-Turnier war es sogar eine Premiere für ihn. Das Timing für diesen Treffer? Ideal. Denn sein zwischenzeitlicher Ausgleich verhinderte so gerade noch, dass geduldige Niederländer im Rückstand doch (ver-)zweifelten. "Es ist ein großartiges Gefühl", sagte de Vrij - und: "Wir haben in der zweiten Hälfte immer an uns geglaubt, haben weitergespielt und nach den Lücken gesucht."

Dass das kein einfaches Unterfangen war, gab er unumwunden zu. "Es war eine richtige Schlacht. Wir haben echt leiden müssen", sagte de Vrij. Das hatten alle Zuschauer sehen können. Wichtiger noch war also seine Erkenntnis daraus: "Das Team weiß, wie es gemeinsam leidet." In Koemans Analyse hatte das kurz zuvor bereits ganz ähnlich geklungen: "Wir hatten ein großes Herz. Manchmal werden wir kritisiert, dass wir das - im Vergleich zu anderen Nationen - nicht haben. Heute haben meine Spieler es gezeigt."

Von Arda Güler und Co. zerwirbelt

Und das gegen ein Team, an dessen fußballerischem Herz in diesen EM-Tagen wohl nie jemand zweifelte. Doch die Türkei hat mehr zu bieten als nur Leidenschaft. Das bekamen auch die Niederlande an diesem Abend zu spüren. Wie schon im Achtelfinale gegen Österreich befreite sich die Mannschaft aus dem gegnerischen Druck und übernahm Mitte der ersten Hälfte selbst die Kontrolle. Der Führungstreffer durch Samet Akaydin? Verdient.

Die Niederländer verloren zu leichtfertig und zu oft Bälle und erlaubten der tempo- und technikreichen türkischen Offensive immer wieder gefährliche Eiltempo-Angriffe. "Sie sind dadurch gewachsen", gab auch de Vrij zu. Wieder einmal der Wachstums-Motor: Jungstar Arda Güler. Er ging in den ersten 45 Minuten nicht nur die weitesten Wege aller türkischen Spieler, sondern bestritt auch die meisten Zweikämpfe seines Teams.

Niederlande baurn um

Die Niederlande schienen in dieser Phase dem Viertelfinal-Aus deutlich näher als dem Titel. Doch Koeman wechselte und das - mal wieder - klug. "Wenn Dinge nicht gut laufen, muss man etwas verändern", sagte der 61-Jährige nach der Partie. Er meinte das genauso pragmatisch, wie es klang, das zeigt er schon während des gesamten Turniers. Koeman nutzt seine Optionen: "Wir haben eine große Gruppe und wir haben sehr unterschiedliche Spieler, die mit unterschiedlichen Spielstilen auf derselben Position spielen können."

Gegen die Türkei hieß das: Wout Weghorst kam zur Pause für Steven Bergwijn. Der wuchtige Stürmer übernahm die Position von Memphis Depay in der Sturmmitte, die Gesamtstatik der Offensive änderte sich. "Man muss da den Einwechselspielern ein Lob aussprechen, wie sie das Spiel als Ganzes verbessern können. Das war auch heute der Fall", sagte Koeman.

Montella Masterclass

Der Eingewechselte selbst, Wout Weghorst, sah das naturgemäß ähnlich. "Wir waren in der zweiten Hälfte sehr gut im Spiel und haben überwiegend gedrückt", sagte der 31-Jährige. Er sollte zwar in den 45 Minuten nur auf zwölf Ballbesitzphasen kommen und doch war es seine Präsenz im Strafraum, durch die das zuvor zu verspielt, ziellose und damit wirkungslose niederländische Offensivspiel fast umgehend mehr Gefahr ausstrahlte.

Fast umgehend. Denn die Türkei versuchte sich auch nach der Pause am so erfolgreichen Plan aus dem Österreich-Spiel. Sie buddelte sich nun hinten ein. Fünferkette, eng zusammenstehende Linien, kaum bis keine Räume: Das ÖFB-Team hatte genau das zermürbt. Auch die Niederländer rieben sich zunächst auf am Catenaccio im Stile Vincenzo Montellas, dem - natürlich - italienischen Trainer des türkischen Nationalteams.

Sorge habe er aber keine gehabt, sagte Weghorst im Sportschau-Interview: "Wir hatten Chance um Chance und das Gefühl war gut. Wir haben uns - wann immer wir zusammenstanden - gesagt: 'Lass und so weitermachen und so drinbleiben im Spiel. Und dann wird das Tor fallen.'" Sie sollten Recht behalten. Binnen sechs Minuten drehten sie das Spiel - um den Sieg dann in der Nachspielzeit doch fast noch aus der Hand zu geben. Der 21-jährige Keeper Bart Verbruggen musste sein Team mehrfach retten.

Weghorst: "Es ist echt drin"

Von Perfektion sind die Niederländer also noch ein Stück entfernt. Aber was sollen erst die - zurecht so viel gescholtenen - Engländer sagen, ihr Gegner im Halbfinale (Mittwoch, 10.07.2024, 21 Uhr).

Koeman jedenfalls war sich in den Katakomben des Berliner Olympiastadions sicher: "Es wird eine große Nacht am Mittwoch zwischen zwei historisch großen Fußball-Nationen." Sein Stürmer Weghorst dachte sogar noch etwas weiter: "Es gibt noch zwei Spiele. Es ist echt drin. Das Gefühl war immer da und es wächst und wächst." Die dann anstehenden Pressekonferenzen würde wohl auch Koeman ganz bis zum Ende auskosten.