"La grande bellezza" Warum Neapel jetzt nach dem Meistertitel greift
Die SSC Neapel dominiert die Serie A. Mit neun Punkten Vorsprung führt das Team von Luciano Spalletti die Tabelle nach dem Wochenende an. Italien ist begeistert, nicht nur vom Erfolg der Neapolitaner – sondern vor allem von der Art Fußball, die der SSC spielt. Die Sportpresse des Landes spricht von „La grande bellezza“.
Nun glauben sie in Neapel wirklich daran. Und sagen es auch offen. In Neapel! Der Hauptstadt des Aberglaubens, wo man sofort Eisen berührt oder die Hand mit Zeige- und kleinem Finger zum Hornzeichen formt, um zu verhindern, dass Wünsche platzen, wenn man sie offen ausspricht. Jetzt aber, im Stadio Diego Armando Maradona, sangen sie aus Zehntausenden Kehlen: "Die Meisterschaft gewinnen wir". Mit inbrünstiger Betonung des letzten Wortes.
Neapel verzückt Fußball-Italien
Der rauschhafte 5:1-Sieg über Juventus Turin hat die Stimmung in Neapel verändert. Ein Reporter der "Gazzetta dello Sport" berichtet: In der Stadt am Vesuv begrüße man sich derzeit nicht mit dem üblichen "Come stai?" (Wie geht's), sondern mit einem lächelnden "Cinqueauno" (Fünfzueins). Der spektakuläre Auftritt der "Partenopei" gegen Juve hat Fußball-Italien verzückt – und die SSC Neapel traut sich zu träumen. Beziehungsweise sich einzugestehen, wie stark man in dieser Saison ist.
"Mit diesem Sieg", meint Trainer Luciano Spalletti, "haben wir eine Botschaft an uns selbst gesandt". Dass man jetzt in Italien die Spitzenmannschaft ist, ohne Wenn und Aber. "Wir selbst hatten immer den Zweifel, ob wir wirklich auf diesem Niveau sind", meint der 63-Jährige. Gegen Juventus habe sein Team die Antwort gegeben, "mit offenem Visier gespielt" und gezeigt, dass es keinen Grund mehr gibt für Selbstzweifel.
Die Bilanz des Wochenendes könnte für die SSC Neapel nicht besser sein. Der potenziell ärgste Verfolger AC Milan stolperte mit einem Unentschieden beim Neuling Lecce. Damit hat Napoli jetzt einen Vorsprung von neun Punkten auf Milan, zehn auf Juventus und Inter.
In der vergangenen Saison haben die Süditaliener phasenweise bereits angedeutet, was sie können. Bis November führten sie die Tabelle über mehrere Spieltage an. Dann aber kam ein Einbruch, sodass Neapel am Ende nur auf Platz drei landete. Jetzt ist es eine andere Geschichte.
Eine selbstverständliche Dominanz
Der Sieg gegen Juventus war mutmaßlich die Wasserscheide der Saison. Hier Neapel, dort der Rest der Serie A. Denn das 5:1 war beeindruckend. Noch beeindruckender war, wie es vom Spalletti-Team erspielt wurde. Mit einer selbstverständlichen Dominanz, mit einem auch in schwierigen Phasen unerschütterlichen Glauben an die eigene Spielidee.
Ein Auftreten und eine (offensive) Fußballphilosophie, die "Gazzetta"-Edelfeder Luigi Garlando dazu bringt, die aktuelle Neapel-Mannschaft gar mit dem Ajax Amsterdam Johan Cruyffs, dem Milan Arrigo Sacchis und dem Barcelona Pep Guardiolas zu vergleichen. Davon den landesüblichen Hang zur Begeisterung abgezogen, bleibt eine Idee dessen, was Neapel in dieser Saison bietet. Auch in der Champions League, wo die SSC in der Vorrunde die meisten Tore aller Mannschaften im Wettbewerb erzielt hat, pro Spiel Ajax Amsterdam vier beziehungsweise sechs Tore einschenkte, Liverpool vier und den Glasgow Rangers zweimal drei.
Die große Schönheit
Das Ganze in einem Spielstil, den in Italien nicht nur der Corriere dello Sport "La grande bellezza", die große Schönheit, nennt. In Anlehnung an den Titel des Oscar-prämierten Films des neapolitanischen Regisseurs Paolo Sorrentino, der gleichzeitig glühender SSC-Neapel-Anhänger ist. Und im Übrigen auch ein Epos über Diego Maradona und sein damit verwobenes persönliches Schicksal gedreht hat. Maradona und la grande bellezza. Trainer Spalletti hat in einem für ihn als gebürtigen Toskaner eher seltenen Anflüge großen Pathos gesagt: In einem Stadion, das nach Maradona benannt ist, sei eine Mannschaft geradezu verpflichtet, schönen Fußball zu spielen.
Maradona und immer wieder Maradona. Das ist in Neapel so. Und die jetzige Mannschaft hält dem Vergleich mit dem Team der goldenen Ära des SSC durchaus stand. Vielleicht ist das, was das Spalletti-Team derzeit leistet, sogar höher zu bewerten. Die Mannschaften damals mit Maradona, Careca, Giordano, Carnevale und Co. bestanden aus Spielern, die als arrivierte Topstars mit Milliarden Lire nach Neapel gelockt wurden.
Der Star ist die Mannschaft
Die Leistungsträger des jetzigen Teams sind erst in Neapel zu Stars gewachsen. Wie Victor Osimhen, der in Wolfsburg durchgefallen ist, jetzt die Torschützenliste der Serie A anführt, im Schnitt nur 96 Minuten braucht, um zu treffen, und vor allem verlässlich in den ganz wichtigen Spielen die entscheidenden Tore macht.
Wie Khvicha Kvaratskhelia, der georgische George Best, den Neapel in den Tiefen der russischen Liga gescoutet hat und der jetzt einer der überragenden Spieler der Serie A ist. Wie der Slowake Stanislav Lobotka, der vor wenigen Jahren noch beim FC Nordsjælland spielte und nun im defensiven Mittelfeld auf höchstem Niveau das Spiel des Serie-A-Tabellenführers lenkt. Trotzdem ist der Star die Mannschaft, was anderes würde Luciano Spalletti nicht durchgehen lassen.
Dass diese Mannschaft nach der bislang letzten Meisterschaft 1990 den Titel wieder nach Neapel holen könnte, ist seit dem Wochenende mehr als eine Träumerei. Im Jahr 33 n. Mar. würde das passen. Auch für den neapolitanischen Aberglauben. Die 33 gilt als Glückszahl und steht in der traditionellen neapolitanischen Tombola für: die Lebensjahre Jesu Christi und – wahre Liebe.