Idol verlässt den BVB Marco Reus - hochveranlagt und unvollendet
Marco Reus hat über ein Jahrzehnt lang den deutschen Fußball geprägt, unzähligen Verletzungen zum Trotz. Nun verlässt er den BVB zum Saisonende. Das Erbe des Ex-Kapitäns ist das eines Kämpfers, der niemals aufgab - und der nur selten belohnt wurde.
Was wäre gewesen, wenn? Das ist eine Frage, die sich Menschen manchmal wehmütig stellen, wenn sie auf etwas zurückschauen. Ob Marco Reus zur Melancholie neigt, ist nicht bekannt. Der langjährige Anführer von Borussia Dortmund wirkte zumindest ziemlich gefasst, als er im Hochglanz-Video der BVB-Medienabteilung vor die Kamera trat, um seinen Abschied zum Saisonende nach insgesamt 21 Jahren im Verein zu verkünden.
"Es fällt mir sehr schwer, die passenden Worte zu finden", sagte da ein bald 35-jähriger Spitzenfußballer, der zuvor schon in Hunderten Interviews versucht hatte, irgendwelche passenden Worte zu irgendwelchen Fragen zu finden. Doch das Spiel mit den Medien war nie seins, auch ganz unabhängig vom Skandal mit dem gefälschten Führerschein 2014. Nun ja, er habe jedenfalls "eine Menge Höhen und Tiefen erlebt", bilanzierte Reus ein bisschen hölzern, "aber mehr Höhen".
Reus' kleine Titelvitrine: Champions League wäre Vollendung
Die Höhen, das waren fünf Titel mit der Borussia, zu der er 2012 von der anderen Borussia aus Mönchengladbach wechselte. Zweimal gewann Reus mit dem BVB den DFB-Pokal (2017 und 2021), dreimal den Supercup (2014, 2015 und 2020). Reus' verspätete Vollendung könnte zum Abschluss nun tatsächlich noch der Champions-League-Titel sein, der BVB geht immerhin mit einem 1:0 ins zweite Halbfinale gegen Paris. "Wir wollen den Henkelpott nach Dortmund holen", erklärte der Offensivkünstler.
Fünf Jahre lang führte er Dortmund mit der Kapitänsbinde aufs Feld, zweimal wurde er zu Deutschlands Fußballer des Jahres gekürt (2012 und 2019). In bisher 424 Pflichtspielen für den BVB war Reus an unglaublichen 296 Toren beteiligt (168 Tore/128 Vorlagen).
Die Tiefen, das waren Verletzungen und verpasste Titelchancen. Schmerzhaft im BVB-Trikot: der verpasste Champions-League-Titel 2013 und die verschenkte deutsche Meisterschaft 2023. Schmerzhaft im deutschen Nationaltrikot: dass er es wenig trug. Denn Reus' Krankenakte könnte problemlos als Lexikon für Sportverletzungen dienen. Es bleibt die Frage: Wäre mehr möglich gewesen?
Vier große Turniere mit der DFB-Elf verpasst
Noch mehr als auf der Vereinsebene betrifft dieses Gefühl Reus' Karriere in der deutschen Nationalelf (48 Länderspiele/15 Tore). Vier große Turniere verpasste er, der Grund war meist eine Verletzung.
Vor der WM 2014 verletzt Reus sich bei einem Testspiel gegen Armenien am Syndesmoseband, Bundestrainer Joachim Löw, der später mit dem Team Weltmeister wird, ist konsterniert: "Marco war super drauf. Er hat vor Spielfreude gesprüht. In unseren Überlegungen für Brasilien hat er eine zentrale Rolle gespielt."
Die EM 2016 verpasst Reus wegen einer Schambeinentzündung, bei der WM 2018 ist er endlich dabei. Doch da geht Deutschland unter, scheidet in der Vorrunde aus. Die Teilnahme an der EM 2020 sagt Reus mehr oder weniger freiwillig vor der Verkündung des Kaders ab. Löw erzählt: "Er hat mir offen gesagt, dass für seinen Körper eine Pause gut wäre."
Marco Reus' Kapitel bei der deutschen Nationalmannschaft ist ein unglückliches. Ständig fehlte er verletzt - und als er 2018 bei der WM dabei war, blamierte sich Deutschland mit dem Vorrundenaus.
Die Winter-WM 2022 in Katar fällt für Reus wegen einer Sprunggelenksverletzung flach. Zwar beschwichtigt BVB-Sportchef Sebastian Kehl damals noch kurz darauf, die WM sei für Reus nicht gefährdet. Der Spieler selbst betont: "Ich werde niemals aufgeben." Aber es kommt anders, Bundestrainer Hans-Dieter Flick muss auf den Regisseur verzichten.
Blessuren kamen bei Stehaufmännchen Reus erst später
Die kleineren Wehwehchen und größeren Verletzungen kamen bei Reus mit dem Alter, so ist das ja meistens. Denn Reus war nicht immer verletzt. Zwischen 2009 und 2014 absolvierte er pro Saison immerhin konstant zwischen 30 und 33 Bundesligaspiele. Aber später tat eben immer häufiger etwas weh, war entzündet, geprellt oder gerissen - so häufig, dass sich Reus' Karriere in der Rückschau für viele zu einer einzigen Aneinanderreihung von Krankenhausaufenthalten verdichtet.
Doch Reus perfektionierte das Sich-Zurück-Kämpfen. Was auch seinen Trainern zu verdanken war, die große Geduld mit dem verletzungsanfälligen Offensivkünstler hatten. Jürgen Klopp formte Reus trotz der sich mehrenden Blessuren. Peter Stöger baute ihn nach einem Kreuzbandriss, der ihn lange außer Gefecht gesetzt hatte, Anfang 2018 wieder auf. Lucien Favre blieb zwischen 2018 und 2020 trotz einer ganzen Phalanx an kleineren und größeren Verletzungen geduldig, machte ihn sogar zum Kapitän.
Marco Rose behielt Reus als Kapitän. Und Edin Terzic führte ihn seit 2022 immer wieder heran, als sein Sprunggelenk im übertragenen Sinne zunehmend zur Achillesferse wurde.
Trotz Verletzungen einer der besten Bundesliga-Profis
Klopp sagte mal 2018 am Rande einer Preisverleihung, da war Reus gerade topfit: "Das war immer klar: Wenn Marco verletzungsfrei bleibt, wird er einer der dominantesten Spieler in der Bundesliga überhaupt sein." Er blieb zwar auch nach 2018 alles andere als verletzungsfrei, trotzdem war er immer wieder einer der dominantesten Spieler in der Bundesliga.
Ob die BVB-Fans und Fußball-Deutschland Reus nun als häufig verletzten Unvollendeten oder als häufig zurückgekommenen Kämpfer in Erinnerung behalten werden, ist deshalb vielleicht eine Frage der Perspektive.