Silber für Deutschland bei Eishockey-WM Erfolg als Summe der vielen kleinen Momente
Bei der Eishockey-WM hat Deutschland sensationell Silber geholt. Sportschau-Reporter Burkhard Hupe begleitete die Nationalmannschaft dabei und erinnert sich an die schönsten Momente.
Moritz Müller war kaputt. Einfach nur fertig. Mit leerem Blick versuchte der Kapitän der deutschen Eishockey-Nationalmannschaft, das gerade Erlebte einzusortieren. Nico Sturm wirkte entschlossen. Immer noch. Und verärgert, weil das Finale nicht mehr zurückzuholen war. Moritz Seider hatte sein jungenhaftes Lächeln wiedergefunden und strahlte mit der Silbermedaille um die Wette.
Es gab bei dieser Weltmeisterschaft viele kleine Momente, die das große Ganze beschreiben und am Ende auch ausmachten. Zum Beispiel im letzten Vorrundenspiel gegen Frankreich, als Deutschland schon mit 5:0 führte, das Viertelfinale in der Tasche hatte. Die Franzosen erhielten kurz vor dem Ende die Chance, mit einem freien Schuss den Ehrentreffer zu erzielen. Nico Sturm erkannte die Situation und warf seinen Körper als Block aufs Eis.
Schmerzbereite Millionäre
Sturm hat schon den Stanley Cup gewonnen, mit seinem Jahressalär in San José könnte man eine halbe DEL-Mannschaft finanzieren. Doch in diesem Moment ging es darum, dem deutschen Torhüter Matthias Niederberger ein Zu-Null-Spiel zu sichern. Einen Schlagschuss mit 140 Stundenkilometern mit Haut und Haaren abzuwehren, ist das größtmögliche Statement im Eishockey.
Im Vorrundenspiel gegen Österreich ließ Bundestrainer Harold Kreis seinen Top-Angreifer John-Jason Peterka im letzten Drittel auf der Bank versauern. "Benchen" nennt man das im Eishockey. Peterka hatte sich nicht an den Spielplan gehalten, mit Fehlpässen und Eigensinn den Erfolg gefährdet.
"Wir hatten das Gefühl, dass er sein Spiel nicht so entfalten konnte", sagte Harold Kreis später. Ein freundlicher Euphemismus und ein klares Signal an die Mannschaft: Niemand ist größer als das Team. Peterka, ein junger, ehrgeiziger Kerl mit ungeheurem Potenzial, schluckte diesen Verweis und spielte danach eine Klasse besser.
Psycho-Tricks gegen die Schweiz
Im Viertelfinale gegen die Schweiz zog Deutschland die Psycho-Karte und wählte in der Eisarena von Riga aus sechs freien Kabinen genau jene, die den Schweizern gegenüberlag. Sie wollten in die Köpfe der Eidgenossen hineinkriechen. Sie wollten ihnen auf die Nerven gehen. Es gelang eindrucksvoll. Auch deshalb, weil nach dem frühen Eisverweis für den besten deutschen Verteidiger Moritz Seider jeder einzelne Spieler in der Lage war, noch einmal mindestens fünf Prozent mehr zu geben.
Bundestrainer Kreis hat in diesen Tagen von Tampere und Riga einen wunderbaren Satz geprägt: "Ich fühle mich bei dieser Mannschaft gut aufgehoben." Kreis hat im Eishockey viel erlebt. Er wurde als Verteidiger der Adler Mannheim zweimal deutscher Meister, sein Trikot mit der Nummer 3 hängt unter dem Hallendach in Mannheim. Er war mit Düsseldorf als Trainer dicht dran am nationalen Titel, den er in der Schweiz gleich zweimal gewann. Kreis hat fast fünf Jahrzehnte Eishockey auf der Habenseite und galt doch für nicht wenige Experten als Notlösung, nachdem Toni Söderholm im Herbst vergangenen Jahres überraschend in die Schweiz gewechselt war.
Der Bundestrainer: Ruhig, klar und empathisch
Nun hat sich gezeigt, dass Kreis mit seiner Ruhe, Klarheit und Empathie diese Mannschaft weiterentwickelt hat. In sehr kurzer Zeit. Auf dem Fundament, das von seinen Vorgängern Marco Sturm und Söderholm gelegt worden ist, hat er ein selbstbewusstes Gefüge geschaffen, das die Zuversicht nicht einbüßte, obwohl es die ersten drei WM-Spiele ungeachtet sehr beachtlicher Leistungen verlor. Jedes Spiel, das danach folgte, war ein Endspiel. Und jedes Mal waren es andere Akteure, die die Tür zur nächsten Hoffnung öffneten.
Mit Wojciech Stachowiak hat die deutsche Mannschaft sogar einen echten Shooting-Star hervorgebracht. Der Mittelstürmer der vierten Reihe, mit Vollbart und wehenden Haaren, war mit seiner frechen, draufgängerischen und zugleich kämpferischen Art eine Inspiration für den Rest der Mannschaft.
Es kam nicht von ungefähr, dass der Ingolstädter jenen unerwarteten Konter in Unterzahl zum gegnerischen Tor brachte, die Scheibe quer auf Sturm legte, dessen Treffer zum 3:1 die Weichen in Richtung Halbfinale stellte. Überhaupt war diese vierte Reihe mit Justin Schütz aus München und Parker Tuomie aus Straubing eine Formation, in die sich jeder Eishockey-Fan nach tuchelscher Diktion "schockverlieben" konnte.
Welchen Wert hat diese Silbermedaille?
Die Weltmeisterschaft ist Geschichte. Und sie findet einen besonderen Platz in der deutschen Sportgeschichte. Es wird Nörgler und Fingerschnipser geben, die das Fehlen von etlichen NHL-Superstars in diesem Turnier bemängeln oder darauf verweisen, dass die russische Mannschaft aus bekannten Gründen nicht dabei sein durfte.
Es sei hier nur kurz erwähnt, dass Leon Draisaitl, Tim Stützle, Lukas Reichel oder Philipp Grubauer aus unterschiedlichen Gründen an dieser WM nicht teilnahmen. Jeder deutsche Eishockey-Fan würde viel dafür geben, diese drei großartigen Stürmer und den Torhüter einmal gemeinsam in einem großen Turnier zu erleben.
Respektvoller Umgang mit Medien
Noch ein letzter Gedanke sei an dieser Stelle erlaubt. Die deutschen Nationalspieler haben sich nach jeder Schlusssirene sehr selbstverständlich, zugewandt und meist auch eloquent den Fragenstellern in der Mixed-Zone gestellt. Für Sturm, Seider und Kapitän Moritz Müller dauerte der 100 Meter lange Gang vorbei an Kameras, Mikrofonen und Notizblöcken manchmal eine halbe Stunde.
Es machte dabei keinen Unterschied, ob sie das Eis als Sieger oder Verlierer verlassen hatten. Es herrschte ein Umgang, der von Respekt geprägt war. Für jeden Journalisten, der schon einmal auf Stimmenfang nach Fußball-Länderspielen gehen musste oder durfte, ist das nicht selbstverständlich.
Und nun? Wird es weitergehen und wieder von vorne anfangen. Bei der nächsten Weltmeisterschaft, den nächsten Olympischen Winterspielen. Gut möglich, dass diese WM ein singuläres Ereignis bleibt und kein Versprechen auf eine glückstrahlende Zukunft. So ist der Sport, das ist das Wunderbare. Jederzeit nach den Sternen greifen zu wollen und trotzdem eine Bruchlandung erleben zu können. Es gibt keine Garantien, aber es gibt immer die Hoffnung auf den einen großen Augenblick, der die Summe von vielen kleinen Momenten ist.