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interview

Kopfverletzungen im Football Neuropathologin McKee - "Wir müssen die Spielregeln ändern!“

Stand: 12.11.2023 09:23 Uhr

Am Sonntag (12.11.2023) gastiert die NFL zum zweiten Mal in der laufenden Saison in Frankfurt. Während die Fans auf den Tribünen die Spielzüge der Indianapolis Colts und der New England Patriots feiern, riskieren die Spieler auf dem Platz ihre Gesundheit und im schlimmsten Fall ihr Leben: Jeder Tackle, jeder Zusammenstoß kann CTE auslösen – eine irreparable Gehirnerkrankung. Neuropathologin Dr. Ann McKee ist eine Koryphäe auf diesem Gebiet der Forschung. Von Football-Fans und der Liga NFL wird sie für die unliebsamen Wahrheiten oft angefeindet. Die Sportschau hat sie in der weltgrößten Hirnbank in Boston zum Interview getroffen.

Sportschau: Was genau ist eine Chronisch Traumatische Enzephalopathie – kurz CTE?

Dr. Ann McKee: CTE ist eine neurodegenerative Erkrankung, die in fast allen Fällen durch wiederholte Schläge auf den Kopf verursacht wird. Und diese Schläge können von Kontaktsportarten, schlecht kontrollierter Epilepsie oder zwischenmenschlicher Gewalt kommen. Durch die Schläge entstehen an den Verletzungen im Gehirn Ansammlungen eines abnormalen Proteins namens Tau. Es beginnt an kleinen Stellen im Gehirn und befällt mit zunehmendem Alter das gesamte Gehirn, das Kleinhirn, den Hirnstamm und sogar das Rückenmark.

Sportschau: Welche Art von Symptomen haben diese Patienten?

McKee: Bei Patienten mit sehr schwerem CTE sehen wir eine Art Demenz. Also die Unfähigkeit, klar zu denken, Schwierigkeiten, sich selbst zu versorgen, kein Gedächtnis. Bei Menschen mit einer leichteren Erkrankung sehen wir eine Menge Verhaltens- und Stimmungsänderungen. Das können Depressionen, Hoffnungslosigkeit, sogar Suizidalität, aber auch Reizbarkeit, Impulsivität, Wut, Gewalttätigkeit, in manchen Fällen sogar Mordgedanken sein. Oft wissen die Betroffenen, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, aber sie haben Schwierigkeiten, es genau zu benennen.

Sportschau: Wie alt sind die betroffenen Personen?

McKee: Wir hatten tatsächlich einen 17-Jährigen, der High-School-Football spielte und plötzlich starb. Und er hatte bereits eine kleine Menge CTE im Gehirn. Es ist also möglich, die frühesten Stadien von CTE schon bei Teenagern zu sehen. Die Tatsache, dass wir CTE in Gehirnen, die noch nicht einmal voll ausgereift sind, finden, ist meiner Meinung nach sehr besorgniserregend. Und ein Grund dafür, dass wir wirklich alle Anstrengungen unternehmen müssen, um Kopfkontakte aus diesen Sportarten zu verbannen.

Sportschau: Die NFL hat ihre Forschungsergebnisse nicht mit überbordender Begeisterung aufgenommen…

McKee: Nun, Football ist der beliebteste Sport in Amerika. Es ist ein Lifestyle. Es ist Kultur. Es ist Identität. Für einige Gemeinden ist es sogar ihre wichtigste Identität.Deshalb gibt es natürlich enormen Widerstand gegen meine Forschung. Wie kann ich es wagen, etwas Negatives über ihren Lieblingssport zu sagen? Und natürlich geht es beim Football um sehr viel Geld, vor allem auf professioneller Ebene. Die Anfeindungen haben deshalb auch nie wirklich aufgehört. Aber es ist uns dennoch gelungen, im Laufe der Jahre einen Bestand an wissenschaftlicher Literatur aufzubauen, der zeigt, dass beim Football ein CTE-Risiko besteht. Besonders in der NFL. Und je länger man spielt, desto wahrscheinlicher ist es, dass man CTE bekommt.

Dr. Ann McKeee

Dr. Ann McKee

Sportschau: Die NFL investiert Millionen in Helme mit besserer Polsterung…

McKee: Ja, aber die Helme werden nicht CTE verhindern. Es gibt in diesem Sport eine Beschleunigung-Verzögerung des Kopfes. Und diese Beschleunigung-Verzögerung führt zu der eigentlichen Verletzung. Das Gehirn dehnt und verdreht sich bei dieser Verletzung, und das ist es, was den Schaden an den Nervenzellen verursacht. Es ist nicht so sehr der Aufprall, sondern diese Dehnung und Verdrehung, die unter dem Helm, unter dem Schädel stattfindet. Der Helm ist also eine Art zweiter Schädelknochen, wenn man so will. Der Schaden entsteht darunter. Selbst ein Helm kann das also nicht verhindern.

Sportschau: Was ist das Ziel Ihrer Forschung?

McKee: An erster Stelle steht die Aufklärung: CTE ist eine vermeidbare Krankheit! Wenn wir die Anzahl der Kopfstöße, die ein Footballspieler in einem bestimmten Spiel oder während einer Saison erleidet, verringern könnten, würde das das Risiko für CTE drastisch senken. Das bedeutet jedoch, dass die Regeln in einer Weise geändert werden müssen, die sehr unpopulär ist: Weniger Spieler auf dem Spielfeld, ein größeres Spielfeld, insgesamt weniger Spiele, weniger Spielminuten pro Spieler, keine Kopftreffer im Training. Die Anhebung des Alters, ab dem Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Vollkontakt-Football spielen dürfen. Das sind die Dinge, die jetzt getan werden müssten. Und ich denke, dass es auch wichtig wäre, die aktiven Spieler engmaschig zu überwachen. Es sollte gecheckt werden, wie viele Schläge sie im Laufe einer Saison auf den Kopf bekommen haben. Und wenn sie schon viele bekommen haben, müssen sie ein Spiel auszusetzen. Im Moment gibt es jedoch keinen Versuch, lebende Spieler zu beobachten. Im Moment gilt das Motto: Wenn wir nicht drüber sprechen, geht es wieder weg. Das ist ein Irrtum. Diese Krankheit wird nicht verschwinden. Wir müssen die Spielregeln ändern!

Sportschau: Wie entwickelt sich die Krankheit?

McKee: CTE ist progressiv mit dem Alter. Selbst wenn man also ab einem bestimmten Punkt aufhört, Football zu spielen, wird sich CTE im Gehirn mit zunehmendem Alter weiter verschlimmern. Auch wenn man keinen Kontaktsport mehr ausübt. Ab einem bestimmten Punkt ist es also unabhängig von weiteren Kopftraumata. Es hat ein Eigenleben und wird mit der Zeit immer schlimmer.

Sportschau: Was erhoffen Sie sich von der weltgrößten Hirnbank in Boston, an der Sie Ihre Forschung betreiben?

McKee: Nun, wir wollen unbedingt die Sicherheit von Sportlern und allen anderen gefährdeten Personengruppen gewährleisten. Das Wichtigste ist also zu lernen, wie man die Krankheit schon zu Lebzeiten diagnostizieren kann. Ich glaube, wir kommen der Sache immer näher. Wir entwickeln Bluttests auf das abnorme Tau-Protein und einige andere Proteine, die Entzündungen hervorrufen können. Noch sind diese Tests nicht gut genug, nicht spezifisch genug. Aber wir sind auf dem besten Weg dahin. Und ich denke, dass wir in den nächsten zwei, fünf, zehn Jahren in der Lage sein werden, diese Krankheit zu diagnostizieren.

Sportschau: Dann wäre es ja gut, wenn die NFL kooperieren würde …

McKee: Wir brauchen eine Kooperation mit der NFL nicht unbedingt: Wenn es uns gelingt, CTE bei lebenden Menschen zu diagnostizieren, wird das einen gewaltigen Unterschied machen. Menschen werden dann eher darauf reagieren, dass CTE ein Risiko bei einigen Sportarten darstellt. Ich denke, wenn wir es bei jungen Sportlern erkennen und ihnen zeigen können, was das für ihre Zukunft bedeutet, wird sich die Art und Weise, wie diese Sportarten ausgeübt werden und wie wir uns um diese Sportler kümmern, stark verändern.

Sportschau: Welche Reaktionen gibt es von den Familien, die Gehirne spenden?

McKee: Wenn eine Familie ein Gehirn spendet, ist es für sie oft eine Erleichterung zu hören, dass es die Diagnose CTE gibt. Er erklärt im Nachhinein so vieles: Die Männer waren auf einmal streitsüchtig, gewalttätig, impulsiv, depressiv, verhalten sich nicht wie sie selbst und waren anderen Familienmitgliedern gegenüber ziemlich unsympathisch und sogar feindselig. Viele Familien sagen, sie hätten gerne gewusst, dass dies eine Folge von Kontaktsportarten sein könnte. Wenn sie mehr gewusst hätten, wenn sie besser aufgeklärt worden wären, hätten sie vielleicht andere Entscheidungen für ihr Leben und das ihrer Angehörigen getroffen.

Sportschau: Sie sprechen von Kontaktsport – also nicht nur von Football?

McKee: Richtig. Wir haben hier zwar über tausend Gehirne von Footballspielern. Aber wir beschäftigen uns auch immer häufiger mit Eishockey. Vor kurzem wurde veröffentlicht, dass bei zwei Dritteln aller Rugby-Spieler ebenfalls CTE diagnostiziert wurde. Wir wissen, dass Ringen ein Risiko für CTE ist. Unser nächstes Ziel ist es deshalb eine internationale Forschungskooperation aufzubauen. Ich denke da auch an Fußball in Europa, insbesondere wenn es um Kopfbälle geht.

Sportschau: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Gudrun Engel.