Interview mit Philologe Ansgar Mohnkern Interview mit Philologe: "Klubs wie Kaiserslautern zehren von einer Welt, die es nicht mehr gibt"
Sind Verlierer im Fußball wirklich verantwortlich für ihr Scheitern? Ansgar Mohnkern hat sich mit dem Wesen von Sieg und Niederlage beschäftigt. Im Fokus steht der tragische Traditionsklub Kaiserslautern, der nun im Pokal bei Hertha antritt.
Im Fußball gibt es Gewinner, es gibt aber auch Verlierer. Das klingt banal, ist es aber nicht: In seinem Essay "Einer verliert immer" analysiert Ansgar Mohnkern, wie sich die Entscheidungen über Sieger und Verlierer verändert haben und stellt einen Bezug zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem her. Auf der Strecke bleiben würden vor allem die Traditionsvereine, was Mohnkern am Fall des 1. FC Kaiserslautern zeigen will. Der FCK ist am Mittwoch der nächste Gegner von Hertha BSC im DFB-Pokal.
rbb|24: Sie sagen, im Fußball steckt eine Botschaft. Welche?
Ansgar Mohnkern: Die primäre Botschaft ist, dass es – wie auch bei einigen anderen Spielen – um das Siegen und Verlieren geht. Der Fußball braucht immer eine Entscheidung. Es braucht einen Sieger, der wird gefeiert. Es braucht aber auch Verlierer. Das Unentschieden hat nur provisorischen Charakter, denn am Ende gibt es doch immer einen Meister, einen Pokalsieger und eben auch Absteiger und Gescheiterte. Es geht um Entscheidungen und es geht um Unterscheidungen.
Der Münzwurf von Rotterdam im Jahr 1965 ist für Sie von zentraler Bedeutung.
Im Europapokal der Landesmeister endete das Hin- und Rückspiel zwischen dem 1. FC Köln und FC Liverpool jeweils 0:0. Es gab keinen Sieger, deswegen musste ein Entscheidungsspiel her, das in Rotterdam stattfand. Aber auch das endete 2:2-Unentschieden. Es gab damals noch kein Elfmeterschießen, aber es musste eben eine Entscheidung getroffen werden. Das erfolgte durch einen Münzwurf, Liverpool war der glückliche Gewinner. Wenn man heute darauf schaut, ist das eigentlich kaum vorstellbar.
Weil ein Sieg durch Münzwurf ungerecht klingt?
Er erscheint vor allem unverdient. Auch der Kölner Trainer Georg Knöpfle sagte im Anschluss, dass doch irgendetwas da sein müsse, was mit Fußball zu tun haben solle. Im Zuge dessen hat man weltweit das Elfmeterschießen eingeführt, und zwar auch deshalb, weil es auf so etwas wie Leistung beruht. Man braucht eben einen Sieger, und der darf nicht aufgrund irgendeiner göttlichen Erscheinung erkoren werden, sondern es muss unsere Leistung sein, die ausschlaggebend ist. Und damit ist das Spiel von Rotterdam aus heutiger Perspektive ein Skandal, weil es eben nicht durch eine besondere individuelle Leistung entschieden wurde. In einer Welt, in der Leistung und Verdienen zwei zentrale Ideen sind, hat so etwas keinen Platz.
Sie deuten die Einführung des Elfmeterschießens im historischen Kontext. Bitte nehmen Sie uns mit in die Zeit.
Vieles hat mit der Neuordnung der Finanzwelten zu tun, der sogenannten Finanzialisierung. Diese findet in den 1970er Jahren ihre Anfänge, so auch Figuren wie Margaret Thatcher und das, was man heute "neoliberale Gesellschaften" nennt: Die Individuen müssen mehr Verantwortung übernehmen, nicht mehr der Staat, nicht die Gesellschaft. Es sind nur noch die Einzelnen, die sich das zu verdienen haben, wo sie sind. Und das geht kurioserweise fußballhistorisch Hand in Hand mit der Einführung des Elfmeterschießens, wo die ganze Bürde der Entscheidung nun auf den Individuen lastet und nicht mehr, wenn man so möchte, auf bloßen Zufällen.
Aber wäre so ein zufälliger Münzwurf tatsächlich in einer anderen Zeit als legitime Instanz akzeptiert worden?
Zumindest scheint es das Regelwerk zu dokumentieren, dass die Menschen mit Zufällen anders umgegangen sind. Man hat dafür eine größere Akzeptanz gehabt. Diese Akzeptanz für Zufälle schwindet – oder verschwindet sogar. Es muss also etwas anderes her: eine Entscheidung, die wir treffen. Und nicht eine fremde Gewalt, die über uns herrscht. Das hat viel damit zu tun, was in spätmodernen, man könnte auch sagen neoliberalen Gesellschaften, ein Skandal ist: wo wir alles unserer Verantwortung zuschreiben.
Symbolisch steht für Sie der in den Belgrader Nachthimmel gejagte Elfmeter von Uli Hoeneß, der zur Final-Niederlage der deutschen Elf bei der EM 1976 führte.
Uli Hoeneß wurde nach seinem Fehlschuss vielfach beschrieben als "tragischer Held". Bis heute ist er, wenn man so möchte, die erste große Figur des tragischen Helden im Elfmeterschießen. Wir erinnern uns auch an viele andere Schützen, die verschossen haben, etwa der Italiener Roberto Baggio bei der WM 1994 im Finale gegen Brasilien. Aber die Brasilianer, die getroffen haben, die kennen wir nicht mehr. Wir erinnern uns an die tragischen Helden, und zwar deshalb, weil sie einer Verantwortung nicht gerecht wurden.
Wurde der Verantwortung nicht gerecht: Uli Hoeneß nach verschossenem Elfmeter im EM-Finale 1976.
Es gibt aber auch positive Elfmeter-Helden. Gerade im Viertelfinale der Hertha gegen den HSV bleibt vor allem Fabian Reese in Erinnerung, der nach einem unglaublichen Spiel noch den entscheidenden Elfer traf. Oder Nader El-Jindaoui, der - ebenfalls gegen den HSV - in seinem ersten Profi-Pflichtspiel antrat zum Elfmeterschießen und versenkte. Sind das nicht Gegenbeispiele zum "tragischen Helden"?
Auch das sind Verdienste, Leistungen, an die man sich erinnert. Man erinnert sich in zwei Formen an sie: An die, die es nicht geschafft haben, der Verantwortung gerecht zu werden und auf der anderen Seite an die besonderen Leistungen. Das ist genau dieser Logik entsprechend, dass wir uns immer um Verdienen und Leistung drehen. Der Fußball, wie kein anderes Spiel, stellt das aus. Er ist ein Museum der Welt von Leistungen und Verdiensten.
Trotzdem geht vom Fußball eine enorme emanzipatorische Kraft aus. Auf dem Platz sind alle gleich.
Das kann man durchaus so sehen. Zugleich gibt es aber auch einen Widerspruch in dieser Emanzipation, denn sie geschieht unter Vorbehalt, und zwar der, dass man Leistung zu bringen hat. Man bekommt das nicht einfach so, man hat kein Recht darauf. Sondern man muss sich das verdienen, und dafür steht der Fußball immer. Es ist richtig, dass sich Menschen emanzipieren über den Fußball. Aber eben unter dem Vorbehalt, Leistung zu bringen. Dafür wird der Fußball auch gefeiert, das hat seinen Zauber, aber es ist widersprüchlich. Und das war das primäre Ziel meines Buches, daran zu erinnern.
In ihrem Buch richten Sie einen besonderen Fokus auf den 1. FC Kaiserslautern, den nächsten Gegner der Berliner Hertha im DFB-Pokal. Wofür steht der Verein aus Ihrer Sicht?
In der westdeutschen Geschichte steht der Klub für Tradition schlechthin. Der Verein ist das, was man Traditionsverein nennt. Dadurch existiert eine gewisse Ungleichzeitigkeit. Durch die Gegenwart des Vereins schimmert immer die Vergangenheit durch. Das fängt damit an, dass die Mannschaft im Fritz-Walter-Stadion spielt. Niemand würde auf die Idee kommen, es umzubenennen. Die Vergangenheit, die in Kaiserslautern vor allem den Namen Fritz Walter trägt, spielt immer mit. Und das Vergangene, das steht da immer für das Bessere: Fritz Walter, der Bescheidene, Fritz Walter, der großartige Fußballer, Fritz Walter, der Mensch und so weiter.
Klingt nostalgisch.
Aber zugleich muss man der Welt von heute gerecht werden, in der es um Leistung und Verdienen geht, und nicht um Menschlichkeit. Das ist eine sekundäre Qualität, die keine Rolle spielt, für die man keine Punkte bekommt. Das ist der Widerspruch, der sich bei vielen Traditionsklubs abbildet, aber vor allem in Kaiserslautern. Deswegen zieht der Klub auch so viele Menschen an, denn wenn sie ins Fritz-Walter-Stadion gehen, leben sie immer ein bisschen in der Vergangenheit, von der sie denken, dass sie besser war.
Nach dem Motto: Die gute, alte BRD.
Sozusagen. Das heißt aber nicht, dass es die auch gab. Es heißt nicht, dass Fritz Walter besser war – vielleicht war er es. Aber denken wir daran, wie wenige Bewegtbilder wir eigentlich von ihm haben. Wir wissen eigentlich gar nicht, wie er gespielt hat, jedenfalls im kollektiven Gedächtnis. Trotzdem steht er für eine bestimmte Magie einer vermeintlich besseren Welt, von der wir gar nicht wissen, ob sie wirklich besser war.
Überall versuchen Traditionsvereine Anschluss zu halten – oder wieder Anschluss zu finden an die aktuell erfolgreichen Klubs. Worin liegt für Sie das Tragische?
Das Tragische liegt in den Kapitalstrukturen. Es ist unmöglich, mit Vereinen wie Leipzig oder Leverkusen mitzuhalten. Es ist typisch, dass solche Vereine oder Klubs wie Hoffenheim und Wolfsburg in der Liga spielen und nicht HSV, Kaiserslautern, Schalke oder Nürnberg - die ja viel mehr Meistertitel als die anderen Vereine gesammelt haben, und trotzdem in diesem Leistungsmodell zurechtkommen müssen und sich dort einen Platz verschaffen müssen. Die Vereine zehren von einer Welt, die es nicht mehr gibt. Man kann auch sagen, die Vereine sind aus der Zeit gefallen. Sie haben keinen Ort.
Verfolgen Sie selbst noch die Spiele des FCK, zum Beispiel wenn es nun im DFB-Pokal gegen die Hertha geht?
Ich schaue immer nach, wie Kaiserslautern gespielt hat. Das wird auch so bleiben, trotz all der Widersprüche.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Shea Westhoff, rbb Sport.
Sendung: rbb24 Inforadio, 30.01.2024, 07:15 Uhr