Kiels Finn Porath (l.), Fiete Arp (Mitte) und Lewis Holtby jubeln.

Erwartungsdruck im Nachwuchsfußball "Mehr Menschlichkeit" - Kampf gegen das harte Geschäft mit Fußball-Talenten

Stand: 25.12.2023 10:35 Uhr

Julia Porath, Mutter von Holstein Kiels Finn Porath, kritisiert den Umgang mit Talenten im Fußball. Ihr Konzept der Elternbeauftragten ist seit dieser Saison für Proficlubs verpflichtend. Ein Anfang, doch die Verantwortung wird weiter hin- und hergeschoben - zu Lasten der Nachwuchsspieler.

Von Tobias Knaack

Es war der 11. November dieses Jahres: Fiete Arp schnappte sich in der eigenen Hälfte den Ball, schaute kurz auf und spielte Porath mit einem scharfen Schnittstellenpass frei. Der Mittelfeldspieler verarbeitete den Ball im Vollsprint und jagte ihn mit einem satten Schuss in die Maschen. Ein Traumkonter, ein wunderschönes Tor, einer der Gründe, weshalb man Fußball lieben kann.

Hohe Erwartungen und tiefe Löcher

Dass die beiden diesen Treffer für die "Störche" kurz vor Schluss im Nordduell gegen den HSV gemeinsam so orchestrieren konnten, dass sie von tausenden Fans dafür bejubelt wurden, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn obwohl beide erst Mitte 20 sind, haben sie im Fußball bereits viel er- und durchlebt. Sie haben die hässlichen Seiten des Multimilliarden-Geschäfts kennengelernt, ein Gefühl dafür bekommen, wie schnelllebig es sein kann. Und das nicht erst, seit sie Profis sind.

Denn ihre Karrierewege verliefen alles andere als geradlinig, waren geprägt von Aufstieg und Fall, hohen Erwartungen und tiefen Löchern, Startaufstellung und Seitenlinie. Ihre Geschichten zeigen stellvertretend, wie schwer es ist, Fußballprofi zu werden - und mindestens genauso schwer, es zu bleiben.

"Man sieht, wie junge Menschen einfach gebrochen werden."
— Julia Porath, Mutter von Finn Porath und Coach

Es sind Geschichten von konstantem Druck in einem Business, von dem Julia Porath sagt, dass es junge Menschen zu Objekten mache. Porath hat selbst jahrelang in Fußball-Nachwuchsleistungszentren gearbeitet und ist heute Coach. Sie berät Fußballer und Eltern, die Sorgen haben und einen Rat brauchen, gibt Workshops, in denen sie angehende Elternbeauftragte für Vereine schult. 

Ihre Beobachtung: "Es geht beim Fußball vermehrt um Konkurrenz, wie so eine kleine Ich-AG. Jeder ist nur für sich zuständig, für sein Weiterkommen." Ihr Vorwurf: "Man sieht, wie junge Menschen einfach gebrochen werden, wie sie den Spaß an dem verlieren, woran sie am allermeisten Spaß haben", wie sie "einfach aussortiert werden, daran zerbrechen". Ihr Ziel: "Mehr Menschlichkeit reinbringen in die Maschinerie".

Finn Porath: Zwölf Sekunden Bundesliga

Porath und Arp stammen beide aus Schleswig-Holstein. Beide waren im Nachwuchsleistungszentrum des HSV, beide wurden noch zu Bundesligazeiten Profis bei den Hamburgern, haben an unterschiedlichen Stationen in den Folgejahren aber auch die Erfahrung gemacht, wie schnell es mit dem Traum von der Bundesliga oder vom Profidasein vorbei sein kann.

Beispiel Porath, dessen Bundesliga-Karriere sich bisher auf zwölf Sekunden beschränkt: Es war der elfte Spieltag der Saison 2016/2017, als der damals 19-Jährige beim HSV in der Nachspielzeit gegen Hoffenheim eingewechselt wurde. Anpfiff, Einwurf, Abpfiff, Aus. In den beiden folgenden Saisons ging es per Leihe 800 Kilometer in den Süden nach Bayern zum damaligen Drittligisten Unterhaching.

Hype um einen 17-Jährigen

Arp kommt in der Bundesliga auf deutlich mehr Einsatzzeit, hat sogar Tore erzielt. Mit 17. Es waren Treffer, die in Hamburg in der Abstiegssaison 2017/2018 zu einem unglaublichem Hype führten. Und zu einem Wechsel zu den Bayern nach München zwei Jahre später. All das, es war zu viel für den jungen Fußballer: erst in Anlehnung an Uwe Seelers Spitznamen als "Uns Fiete" beim HSV als Retter auserkoren, dann beim FCB als "Deutschlands größtes Talent" nicht an- und nur wenig zum Zug gekommen.

"Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich immer der erste Fiete Arp gewesen wäre."
— Holstein-Stürmer Fiete Arp

Heute spielt Arp bei Zweitliga-Herbstmeister Kiel seine bislang beste Saison im Profifußball. Beim Blick zurück sagt er: "Bei mir hat es einen Jo-Jo-Effekt ausgelöst, weil ich selber dauerhaft versucht habe, das abzublocken und selber gesagt habe: 'Nee, nee. Das stimmt so alles nicht. Du bist vielleicht gut, aber so gut auch wieder nicht.'" So sei er "in einer Phase, in der du vor Selbstvertrauen strotzen solltest, in ein dauerhaftes Gespräch" mit sich selbst gekommen, dass er nicht so gut sei.

Das habe "gerade zu dem Zeitpunkt ein bisschen kaputtgemacht, was mich so ausgemacht hat: dieses unbeschwerte Spielen". Das Bild, das der heute 23-Jährige dafür hat: "Kai Havertz war der neue Marco Reus. Florian Wirtz war der neue Kai Havertz, während Kai Havertz aber noch der neue Marco Reus war." Es würden "immer wieder diese Vergleiche hervorgeholt". Ihm wäre es lieber gewesen, "wenn ich immer der erste Fiete Arp gewesen wäre".

Angst, nicht übernommen zu werden

Den Titel als "HSV-Juwel" und die Frage, ob er der "neue Marco Reus" sei, kennt auch Finn Porath. Und das schon aus Zeiten, als er noch auf dem HSV-Campus war, der Nachwuchsschmiede des heutigen Zweitligisten. "Natürlich ist da Druck", sagt der 26-Jährige. "Es gibt Momente, wo man Angst hat, nicht übernommen zu werden ins nächste Jahr oder dass man nicht gut genug ist."

Da habe er gemerkt, dass "dieser einfache Spaß, der es immer war für mich", dem Gefühl gewichen sei, dass "am Ende des Jahres immer abgerechnet wird". Den Sprung zu den Profis schaffen bundesweit drei Prozent der Talente.

"Im Leistungsnachwuchsfußball gibt es Entscheidungen, die hart sind."
— Markus Hirte, Leiter der Talentförderung beim DFB

Markus Hirte, Leiter der Talentförderung beim DFB, sieht das nüchtern: "Im Leistungsnachwuchsfußball gibt es Entscheidungen, die hart sind." In diesen Momenten sei das "wenig menschlich", gesteht er ein. Aber in allen Bereichen, "in denen das Leistungsprinzip gilt, gehe ich die Gefahr ein, enttäuscht zu werden".

Es ist genau das, was Julia Porath nach Jahren, in denen sie selber im Geschäft war, heute kritisiert: "Der Mensch, der Fußballer, ist ein Objekt im Nachwuchsfußball. Oder im Fußball überhaupt. Du hast nie den Menschen, sondern es geht immer nur darum, welche Leistung er erbringt. Und das kann es doch nicht sein, oder?"

St. Pauli geht im Nachwuchsbereich ganz neue Wege

Das sieht auch Zweitligist St. Pauli so - und hat reagiert. Für Benjamin Liedtke, Leiter im Nachwuchsleistungszentrum der Hamburger, geht es darum, "die Basis mit den Spielern und den Eltern zu stärken und niemand anderes hineinzulassen". In der Schule sei es schließlich "auch normal, dass ich ein Entwicklungsgespräch immer mit Schüler und Eltern führe und nicht mit externen Personen".

Im Frühherbst hatte der Verein angekündigt, im Nachwuchsbereich nicht mehr mit Beratern zusammenarbeiten zu wollen. Man wolle eine "ganzheitliche, nachhaltige Ausbildung aufbauen", sagt Liedtke. Für die Kiezkicker bedeute das, den Fokus auf Spieler aus der Metropolregion Hamburg zu richten. Wie viel die soziale und familiäre Bindung ausmacht, wissen auch Porath und Arp von ihren Stationen in Bayern.

HSV setzt zwei Elternbeauftragte ein

So weit wie bei St. Pauli geht man beim Stadtnachbarn HSV nicht. Dennoch lobt Julia Porath die Arbeit an der Sylvesterallee. Seit dieser Saison ist ein Elternbeauftragter in den Proficlubs verpflichtend - auch ein Verdienst ihres Drängens. Im vergangenen Jahr hatte sie dem DFB das Konzept vorgestellt.

Bei den "Rothosen" probiert man es mit gleich zwei Elternbeauftragten - einem eher sportlich orientierten Trainer und einem Psychologen. Frank Weiland übernimmt beim HSV den Part der psychologischen Betreuung und sagt: "Wir wollen das nicht über eine Person regeln." Daher habe man auch ein Team aus fünf Personen gegründet, treffe sich alle zwei Wochen, lade auch Gäste ein und stelle sich immer wieder neu die Frage: "Was sind die nächsten Schritte in der Elternarbeit?"

Vereinen fehlt oft das Geld für die Umsetzung

Geht es nach Julia Porath, sollen Elternbeauftragte der Vereine vermitteln und die Eltern in die Arbeit mit ihrem Kind integrieren. Das aber bindet Kapazitäten - bei den Mitarbeitenden und auch finanziell.

Das Problem: Außer bei den ganz großen Vereinen hätten die wenigsten Clubs die Mittel, um zusätzlich Leute einzustellen, so Porath. Bei St. Pauli übernimmt die Aufgabe des Elternbeauftragten beispielsweise ein pädagogischer Mitarbeiter mit.

Verantwortung wird weitergegeben

Und so entsteht aktuell ein Kreislauf, in dem die Verantwortung weitergeschoben wird. Die Vereine ächzen unter der Mehrbelastung. Andere rufen danach, dass der DFB das Konzept den Clubs gegenüber stärker durchsetzt. Doch DFB-Talentförderungs-Chef Hirte sagt: "Wir sind nicht die Institution, die prüft und überprüft." Es gebe "eine maximale Eigenverantwortung im Sinne der Vereine und Leistungszentren". Für ihn seien die Clubs "erst mal die handelnden Akteure".

Und so lautet das Zwischenfazit von Julia Porath: "Ein Anfang ist gemacht." Es ist aber noch ein weiter Weg zu ihrem Ziel, mehr Menschlichkeit in die Maschinerie zu bringen.

Dieses Thema im Programm:
Sportclub | 10.12.2023 | 23:35 Uhr