Stefan Kretzschmar freut sich über die Spannung.

Melsungen gegen Kiel Kretzschmar - "Melsungen hat sich eine neue Identität zugelegt"

Stand: 28.03.2025 09:55 Uhr

Früher Handball-Punk, heute Experte und Funktionär: Stefan Kretzschmar spricht vor dem Duell Melsungen gegen Kiel über die beiden Topvereine und das spannende Meisterrennen.

Am Samstag kommt es zum Handball-Kracher in der Bundesliga: Die MT Melsungen empfängt den THW Kiel, der hr überträgt die Partie live ab 15.55 Uhr. Wir haben mit Stefan Kretzschmar über das Spiel und das Meisterrennen gesprochen. Er gilt als Handball-Legende und ist derzeit Sportvorstand der Füchse Berlin, die ebenfalls um die Meisterschaft spielen.

Handball-Spitzenspiel live im hr: MT Melsungen gegen THW Kiel

hessenschau.de: Stefan Kretzschmar, Sie haben als einer der wenigen bereits vor anderthalb Jahren die MT Melsungen zum Kreis der Spitzenmannschaften gezählt. Damals wurden Sie noch belächelt. Was hatte Sie von der MT überzeugt?

Stefan Kretzschmar: Für mich war es nur eine Frage der Zeit, bis die MT durchstartet. Es ist im Handball nun einmal so, dass du mit diesen ökonomischen Möglichkeiten nach oben kommst, wenn du dich nicht ganz doof anstellst. Was Melsungen aber geschafft hat: Sie haben sich eine neue Identität zugelegt. Immer noch singen Beobachter das Lied von den gepäppelten Melsungern, die es am Ende nicht schaffen. Doch ein Verein kann sich ändern, eine DNA kann sich ändern.

hessenschau.de: Wie meinen Sie das konkret?

Kretzschmar: Nach Melsungen kamen die Spieler lange Zeit vor allem aufgrund der finanziellen Möglichkeiten. Jetzt wissen sie, dass sie sich dort entwickeln und europäisch spielen können. Spieler wie Balenciaga oder Jonsson waren doch vorher keine Stars, sie wurden bei der MT geformt. Mein wichtigster Indikator: Jetzt gehen Skandinavier zu diesem Klub. Das war jahrelang nicht so und da merkst du, dass sich etwas bewegt hat.

hessenschau.de: Sie haben Melsungen oft gelobt, doch zuletzt in Ihrem Vodcast bei Dyn gesagt, wie sehr Sie generell das 7 gegen 6 verachten. Dabei ist diese Taktik ja ein Merkmal der MT.

Kretzschmar: Das 7 gegen 6 mag ein legitimes Mittel sein, auf das beispielsweise Weltmeister Dänemark zurückgreift. Ich würde es auch feiern, wenn wir damit die Deutsche Meisterschaft gewinnen, keine Frage. Aber mir geht es um die Ästhetik unseres Sports, Handball ist immer noch 6 gegen 6 für mich, ohne künstliche Überzahl. Es sollte ein Spiel sein, das über Wille oder Talent entschieden wird.

hessenschau.de: Die MT hatte vergleichsweise wenige WM-Fahrer. Dennoch ist das Team von Verletzungen gebeutelt. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Kretzschmar: Eigentlich nicht, denn meistens spürt man die Nachwehen eines Turniers erst im Mai. Ich könnte höchstens annehmen, dass bei einer Pause der Kopf eine Rolle spielt. Sie kennen es vielleicht, wenn man viel gearbeitet hat und dann plötzlich im Urlaub in den ersten Tagen krank wird. Vielleicht hat die personelle Misere damit zu tun, dass der Körper runterfährt – aber nicht jeden Ausfall kann man damit erklären.

MT Melsungen: Seit 20 Jahren erstklassig

hessenschau.de: Ist die Verletzungsmisere der Hauptgrund für die aktuelle Formschwäche?

Kretzschmar: Definitiv. Die MT trifft vor allem der Ausfall von Elvar Örn Jonsson hart, den ich für ihren wichtigsten Spieler halte. Dann fehlen noch Mensing, Darmoul, Cavalcanti, Mandic und und und. Bei dieser Fülle an Verletzungen darf man Melsungen gerade auch nicht zu hart kritisieren, finde ich.

hessenschau.de: Kommen wir zu Kiel: Trainer Filip Jicha hat gesagt, die Meisterschaft käme für seine Mannschaft noch zu früh. Klassisches Understatement?

Kretzschmar: Na klar, aber das machen wir ja alle. Du musst in dieser Phase den Druck rausnehmen. Ich verstehe in diesem Punkt jeden Trainer, auch wenn ich bei Melsungens Coach Parrondo schon schmunzeln musste, als er sagte: "Wir sind ein ganz, ganz kleiner Klub." Beim THW ist doch logisch, dass sie aufgrund ihrer ökonomischen Vormachtstellung und der Reputation jedes Jahr um den Titel spielen müssen.

hessenschau.de: Wie sehen Sie den Youngster Elias Ellefsen a Skipagotu beim THW?

Kretzschmar: Er ist ein Riesentalent und wird ohne Zweifel einmal Weltklasse sein. Doch er befindet sich gerade noch im Lernprozess und in dieser Phase muss man ihm sogar mal Spiele mit einer 0/5-Wurfquote zugestehen. Wegen seines jungen Alters und seiner Spielkultur wird er nicht wie ein Magnus Wislander konstant abliefern. Aber er wird immer besser werden.

hessenschau.de: Mit Melsungens Nebojsa Simic und Kiels Andreas Wolff treffen zwei der besten Torhüter aufeinander. Wird es das entscheidende Duell?

Kretzschmar: Total, die Torhüterposition ist in unserem Sport die wichtigste. Simic hat gerade bei den Heimspielen unter Beweis gestellt, welchen Wert er für die Mannschaft hat. Und Kiel braucht im Endspurt einen Andi Wolff als Mentalitätsmonster, um erfolgreich zu sein. Ich finde aber, dass alle vier Torhüter der beiden Teams ausgesprochen zuverlässig sind. Es wird ein Schlüssel für den Ausgang der Partie, ja.

hessenschau.de: Blicken wir insgesamt aufs Meisterrennen: Sie sagten, dass Magdeburg kein Spiel mehr verliert. Wollten Sie damit die Favoritenrolle von den Füchsen Berlin wegschieben?

Kretzschmar: Nein, das ergab sich einfach durch den Blick auf das Restprogramm. Der SCM hat kein Auswärtsspiel bei direkten Konkurrenten mehr vor der Brust. Natürlich musst du erst einmal solche Spiele wie in Lemgo gewinnen, aber Magdeburg beweist auch immer eine unglaubliche mentale Stärke und funktioniert in solchen Phasen einfach.

Das ist Stefan Kretzschmar
Kretzschmar (52) galt als schillerndste Figur des deutschen Handballs. Er trug auffällige Frisuren wie Tattoos und moderierte nebenbei noch beim Musiksender MTV. Als Spieler gewann er mit dem SC Magdeburg unter anderem die Champions Legaue, holte WM-Silber und wurde in die Hall of Fame der europäischen Handballföderation aufgenommen. Heute arbeitet er als Sportvorstand bei den Füchsen Berlin und als Experte beim Sender Dyn.

hessenschau.de: Dann blieben Ihre Füchse, Flensburg und Hannover auf der Strecke.

Kretzschmar: Da sieht man auch mal, dass ich meine These nicht zu Ende gedacht habe (lacht). Wenn Magdeburg tatsächlich kein Spiel mehr verlieren sollte, kann ich nicht auch noch auf Flensburg setzen. Sie hatten lange Probleme, aber die Qualität dieser Mannschaft ist einfach zu gut. Bei Hannover hingegen konnte keiner vorher damit rechnen, dass sie im März noch oben sind. Aber da herrscht viel Harmonie, eine hohe Identifikation, eine hohe Laufbereitschaft – sie stehen zurecht da, wo sie sind.

hessenschau.de: Wie lautet also Ihre Prognose im Titelkampf?

Kretzschmar: Die kann ich nicht geben, die Lage ändert sich ständig. Auch wir als Experten müssen uns jede Woche drehen wie die Aale. Diese Liga ist einfach geil wie noch nie, auch im Abstiegskampf.

Abschließend: Was erwarten Sie vom Spiel Melsungen gegen Kiel?

Kretzschmar: Ich glaube, dass Kiel aufgrund der Verletzten der MT leichter Favorit ist. Obwohl der THW jüngst das Nordderby verloren hat, haben sie sich stabilisiert. Für Melsungen geht es nach einem Negativerlebnis in Hamburg darum zu kämpfen und zu beißen. Vielleicht kommen ja einige Angeschlagene zurück, das würde ich Ihnen wünschen. Es wird definitiv ein spannendes Spiel zweier absoluter Topmannschaften.

Das Gespräch führte Ron Ulrich.