Kontroverse um zwei Boxerinnen in Paris IOC unter Druck, die Regeln zu ändern
Die Aufgabe der italienischen Boxerin Carini in der ersten Runde gegen eine Algerierin, um deren Geschlecht es Diskussionen gibt, erregt Gemüter von Sportfans weltweit.
Die weltweite Welle der Entrüstung brach mit Ansage über das Internationale Olympische Komitee (IOC) herein. 46 Sekunden lang boxte vor allem die Algerierin Imane Khelif und schützte sich die Italienerin Angela Carini vor immer neuen Schlägen, bevor sie in der ersten Runde der Gewichtsklasse bis 66 Kilogramm aufgab. Carini kniete im Ring und weinte.
Später sagte sie: "Ich habe aufgegeben, weil ich starke Schläge auf die Nase bekommen habe. Ich habe die Anwesenheit meines verstorbenen Vaters im Ring gespürt. Und ihm gesagt: 'Papa, verzeih mir, aber ich schaffe es nicht.'“
Auftritt und Worte verfehlten ihre Wirkung vor allem deswegen nicht, weil der Kampf eine Vorgeschichte hatte: Die Algerierin Khelif war – wie die ebenfalls in Paris startende Taiwanesin Lin Yuting – im vergangenen Jahr vom internationalen Boxverband IBA von den Weltmeisterschaften ausgeschlossen worden. Dessen Präsident Umar Kremlew hatte dazu auf Telegram geschrieben, Tests hätten "bewiesen", dass Khelif und Yuting "XY Chromosomen" hätten. Die männliche Chromsomen-Kombination also. Damit stellte der russische Offizielle öffentlich dar, die beiden Boxerinnen seien gar keine Frauen.
Missbrauch durch Populisten
Nach Carinis Niederlage verselbständigte sich deswegen die Debatte nicht zuletzt in den sozialen Medien in eine falsche Richtung. Weltweit schrieben Menschen, Männer dürften nicht gegen Frauen boxen, Transgeschlechtliche antreten zu lassen, sei ein Skandal. Populisten meldeten sich zu Wort wie Italiens Regierungschefin Georgia Meloni oder der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump, der schrieb: "Ich werde Männer aus dem Frauensport heraushalten."
Die Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling twitterte zu einem Foto von Khelif mit der weinenden Carini: "Das Grinsen eines Mannes, der weiß, dass er von einem frauenfeindlichen Sport-Establishment geschützt wird."
Über die Regeln bei Olympia entscheidet das IOC. Es erkennt die IBA nach zahlreichen Korruptionsvorwürfen seit 2019 nicht mehr an und hat schon in Tokio die Boxwettkämpfe bei Olympia unter eigener Regie und mit eigenen Vorschriften durchgeführt. Dort entscheidet allein die Eintragung im Pass über das Geschlecht. Die beiden betroffenen Boxerinnen seien als Mädchen geboren und erzogen worden und hätten immer als Frauen gekämpft. "Das ist kein Transgender-Fall", stellte IOC-Sprecher Mark Adams klar, "das ist kein Fall: Ein Mann kämpft gegen eine Frau. Darüber besteht wissenschaftlicher Konsens.“
Geschlechtstest im Boxverband
Während der Boxverband IBA in seinen "Technischen Wettbewerbsregeln" unter 4.2.2 immer noch vorsieht, dass "Boxer einem zufälligen oder gezielten Geschlechtstest" unterzogen werden können, sind diese vor 80 Jahren eingeführten Tests bei vielen anderen Verbänden längst tabu, beim IOC seit 2000. Bei den ersten Tests mussten Athleten nackt zur Inspektion antreten, bevor später ihre DNA untersucht wurde.
"Ich glaube nicht, dass irgendjemand eine Rückkehr zu einigen der Szenen sehen will", sagte IOC-Sprecher Adams, "und ich kenne einige dieser betroffenen Athleten, die sich in ihrer Jugend Sex-Tests unterziehen mussten. Das war ziemlich beschämend. Und zum Glück liegt das jetzt hinter uns."
Vor allem die Leichtathletik hat Erfahrung mit Geschlechterdebatten. Bei der Weltmeisterschaft 2009 in Berlin wurde die südafrikanische 800-Meter-Läuferin Caster Semenya nach ihrem Sieg einem Geschlechtstest unterzogen. Danach teilte Welt-Verbands-Generalsekretär Pierre Weiss mit: "Es ist klar, dass sie eine Frau ist, aber vielleicht nicht zu 100 Prozent."
In dem Fall ging es seitdem hin und her, mal wurde Semenya zugelassen, zuletzt wieder nicht, inzwischen liegt ihr Fall beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie gilt inzwischen als prominenteste intersexuelle Athletin.
Verschärfte Regeln in der Leichtathletik
Im Sport treten intersexuelle Menschen, die etwa äußerlich weibliche Geschlechtsmerkmale haben können, aber innerlich auch männliche, in der Regel in Frauenwettbewerben an. Durch ihren natürlich erhöhten Testosteronspiegel haben sie wie beim Anabolikadoping mehr Kraft und Kraftausdauer. Im Leichtathletik-Weltverband gelten daher seit Ende 2018 bei Frauen Regeln über den zulässigen Blut-Testosteronspiegel.
Athletinnen in bestimmten Disziplinen mussten ihren Spiegel für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten unter 5 nmol/Liter medikamentös senken. Vergangenes Jahr verschärfte der Verband seine Regeln sogar noch. Seither gilt für sogenannte DSD-Athleten, solche mit Varianten in der Geschlechtsentwicklung, dass sie ihren Testosteronspiegel mindestens sechs Monate lang unter 2,5 nmol/L senken müssen, um an internationalen Wettkämpfen in der weiblichen Kategorie teilnehmen zu können.
"Identität öffentlich infrage gestellt"
Die in London lebende Menschenrechtsaktivistin Payoshni Mitra begleitet den Fall Semenya seit Jahren. Über die Vorgänge im Boxen ist sie entrüstet: "Diese Athletinnen haben sich an die Regeln gehalten und durften an den Olympischen Spielen teilnehmen, und jetzt werden sie in dieser Form gedemütigt. Das ist absolut unfair", sagte Mitra der ARD: "Ich habe mit vielen Sportlern in der ganzen Welt gearbeitet. Und wenn man öffentlich infrage gestellt wird, wird die eigene Identität öffentlich infrage gestellt. Es ist nicht leicht für einen Sportler, dies zu erleben, vor allem nicht, wenn man versucht, sich auf den Gewinn von Medaillen zu konzentrieren."
"Es ist ein Minenfeld"
Das Problem ist kompliziert. Es geht darum abzuwägen, wessen Rechte mehr zu schützen sind, was wichtiger ist: Schutz der Menschrechte, Inklusion, Nichtdiskriminierung versus Schutz von Fairness im Wettbewerb. In Kontaktsportarten wie dem Boxen kommt noch der Faktor Gesundheit hinzu.
Das IOC, das sonst gern die Probleme den internationalen Sportverbänden überlässt und nur den Ruhm einheimst, hat sich für den toleranten Ansatz entschieden. "Es ist ein Minenfeld. Und leider, wie bei allen Minenfeldern, wollen wir eine einfache Erklärung, eine Schwarz-Weiß-Erklärung", sagte IOC-Sprecher Adams: "Diese Erklärung gibt es aber nicht."
Der vom IOC ausgeschlossene Boxverband IBA nutzt die Gelegenheit, auf das IOC einzuprügeln. In einem von seinem Präsidenten Kremlew veröffentlichten Video wütet der Russe: "Wo bleibt die Gleichberechtigung? Wir reden also über die Gleichstellung der Geschlechter und töten sofort das Frauenboxen."
Druck auf IOC wächst
Doch auch in Fachkreisen mehrt sich inzwischen Kritik. Und der Druck auf das IOC wächst, die Lage neu bewerten. "In einer Sportart wie dem Boxen, die zweifellos eine körperliche Sportart und ein Kampfsport ist, ist ein männlicher Leistungsvorteil sehr groß", sagt der schwedische Physiologie-Dozent Tommy Lundberg vom renommierten Karolinska-Institut in Stockholm.
Er könne die große Kontroverse um dieses Thema verstehen, ergänzte Lundberg, denn es sei "natürlich umstritten, Sportler mit einem wahrscheinlichen männlichen Leistungsvorteil im Frauensport zuzulassen. Ich denke, der Schutz der weiblichen Kategorie und die Gewährleistung der Chancengleichheit für Mädchen und Frauen im Sport sind von größter Bedeutung. In diesem Sinne denke ich, dass das IOC seine Richtlinien wirklich überdenken sollte“, sagte Lundberg.
Die Diskussion wird das IOC in Paris weiter begleiten. Auch die Taiwanesin Yuting setzte sich heute in ihrem Erstrundenkampf gegen eine Usbekin durch. Und am Samstagnachmittag muss die Algerierin Imane Khelif öffentlich zeigen, wie sie mit dem Druck umgeht, der durch den öffentlichen Krawall und die Diskussionen um ihren Auftaktkampf noch gewachsen ist. In der zweiten Runde trifft sie auf die Ungarin Anna Luca Hamori.