Bericht der Test-Agentur Keine Doping-Kontrollen bei vielen Medaillengewinnern von Paris
Mehr als 60-mal wurden bei den Olympischen Spielen in Paris Medaillen an Athleten vergeben, die in den Monaten vor der Großveranstaltung gar nicht auf Dopingsubstanzen getestet worden waren. Der Fall eines Gold-Teams sticht in einem neuen Report hervor.
Jeder zehnte Olympia-Starter reiste ohne Dopingtest zu den Spielen nach Paris. Mehr als 60 spätere Medaillengewinner wurden im Vorfeld kein einziges Mal kontrolliert – das zeigt die frisch veröffentlichte Bilanz der für das Doping-Management rund um die Spiele zuständigen Internationalen Test-Agentur ITA. "Verbesserungen in den Test-Planungen sind weiterhin erforderlich“, heißt es in dem Bericht lapidar.
Neben den 10,3 Prozent der teilnehmenden 10.700 Athletinnen und Athleten, die im Untersuchungszeitraum von sechs Monaten vor den Spielen "überhaupt nicht getestet wurden", seien 13,4 Prozent "nicht gemäß den Empfehlungen" getestet worden, schrieb die ITA. In Summe sind dies mehr als 2.500 Teilnehmer. Insgesamt gingen 67 Medaillen in Paris an Athletinnen und Athleten, die sich vor den Spielen völlig ungestört und ohne Dopingkontrolle vorbereiten konnten.
Kritiker deuten den Bericht als weiteren Beweis für einen lückenhaften, ungerechten Anti-Doping-Kampf. "Die Athleten haben jegliches Vertrauen verloren, dass sie unter gleichen Bedingungen antreten", sagte Rob Koehler, Generaldirektor der Interessengruppe Global Athlete, der ARD-Dopingredaktion. Um Berichte wie den jüngsten der ITA zu vermeiden, die "die Lücken und Ineffizienzen im Testsystem nur unterstreichen", und um weltweit den Druck auf Doper zu erhöhen, sei laut Koehler eine Maßnahme unumgänglich: totale Transparenz. "Die Testdaten jedes einzelnen Athleten müssen veröffentlicht werden.“
Ungetestete Olympiasiegerinnen aus Norwegen
Ein Fall sticht in dem Bericht negativ hervor, da er gleich zehn der 15 Spielerinnen der norwegischen Handball-Nationalmannschaft betrifft. Sie wurden im Vorfeld der Spiele gar nicht getestet – weder in Trainingsphasen noch bei Wettkämpfen. Das Team besiegte auf dem Weg ins Finale die deutschen Frauen und sicherte sich schließlich gegen Gastgeber Frankreich den Olympiasieg.
Zum Vergleich: Sämtliche übrigen Handballerinnen und Handballer, die in Paris Medaillen gewannen – darunter auch die letztlich mit Silber dekorierten deutschen Männer -, waren im Vorfeld der Spiele mindestens einmal getestet worden. Unter Experten gelten die Monate der Vorbereitung auf Olympia als diejenigen, in denen es am aussichtsreichsten ist, Doper zu erwischen.
Gute Werte für deutsche Anti-Doping-Kämpfer
Die deutsche NADA und die ihr angeschlossenen Verbände, die für die Umsetzung der auch von der ITA angeregten Dopingkontrollen verantwortlich sind, warteten in dem Report mit Top-Werten auf. Nur ein einziges Mitglied der 430 Athletinnen und Athleten umfassenden deutschen Delegation wurde in dem sechsmonatigen Zeitfenster vor Paris nicht mindestens einmal getestet. 96 Prozent wurden gemäß den ITA-Empfehlungen "oder darüber" kontrolliert. Namen wurden in dem Bericht, der nur nach Sportarten und Nationen aufschlüsselt, nicht genannt.
Auf einem ähnlich hohen Niveau wurde in den Nationen getestet, die letztlich im Medaillenspiegel ganz vorne standen: den USA und China. Die Chinesen waren im Vorfeld der Spiele besonders kritisch beäugt worden – vor allem wegen des von der ARD aufgedeckten Falles der 23 Schwimmer, die positiv getestet, aber nicht sanktioniert worden waren.
Neuseeland und Australien fallen negativ auf
Andere Sportnationen wiesen im Vorfeld von Paris wesentlich größere Lücken auf. In Australien beispielsweise wurden 60 Athleten im Untersuchungszeitraum gar nicht getestet, darunter fünf Medaillengewinner. Auch für Gastgeber Frankreich oder Großbritannien erreichten Athleten ohne vorherige Dopingkontrollen Podiumsplätze.
Besonders negativ fiel die Bilanz für Neuseeland aus, das mit zehn Goldmedaillen und Platz elf im Medaillenspiegel das beste Ergebnis seiner Olympia-Geschichte erreichte. Dem Report zufolge wurden nur 50 Prozent der neuseeländischen Delegation ausreichend getestet, 40 Athleten überhaupt nicht. Darunter befanden sich auch vier Medaillengewinner, unter anderem im Ruder-Doppelzweier der Frauen, der Gold gewann – in einer Sportart, die von der ITA als "dopinggefährdet" eingestuft wird.
Athleten aus 15 Ländern wurden überhaupt nicht getestet
15 kleinere Länder haben ihre Athleten in der Zeit vor den Spielen überhaupt nicht testen lassen. Immerhin: Die Zahl stellt zumindest im Vergleich zu den durch Covid maßgeblich reduzierten Anti-Doping-Aktivitäten im Vorfeld der Spiele 2021 in Tokio einen großen Fortschritt dar. Damals reisten Athleten aus 38 Nationen ungetestet an. In Paris wurde in der Leichtathletik, im Radsport, Rudern, Turnen, Reiten, Segeln, Basketball, Fußball, Handball, Hockey und Wasserball jeweils mindestens eine Medaille von ungetesteten Athleten gewonnen.
Benjamin Cohen, der Generaldirektor der ITA, bezeichnete die Tests vor den Spielen als "entscheidend, nicht nur um Dopingrisiken zu minimieren, sondern auch, um das Vertrauen der Athleten und der Öffentlichkeit in die Olympischen Spiele als Symbol für fairen Wettbewerb zu stärken“.
Fünf Dopingfälle in Paris
Der neueste ITA-Bericht enthält zwar mehr Informationen als in Ausgaben zuvor, aber es fehlen immer noch viele Details. Beispielsweise ist unklar, wonach genau bei jedem Test gesucht wurde. So reizen etwa in vielen Ländern Anti-Doping-Organisationen nicht ansatzweise die volle Bandbreite in der Analytik aus - aus Kostengründen. Wie die ITA bekannt gab, wurden in den sechs Monaten vor der Eröffnungsfeier über 40 potenzielle Olympia-Athleten erwischt, während der Spiele waren es fünf. Alle in Paris entnommenen Proben wurden eingefroren, um sie gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu testen, wenn sich die Analyseverfahren verbessert haben.
Im Nachgang der Spiele 2012 in London waren so nicht weniger als 41 Medaillengewinner als Dopingsünder aufgeflogen. Erst am vergangenen Dienstag hatte die Athletics Integrity Unit bekannt gegeben, dass die Disqualifikation und Zehn-Jahres-Sperre der russischen 1.500-Meter-Läuferin Tatjana Tomaschewa rechtskräftig geworden sei. Tomaschewa war zunächst von Platz vier auf Silber hochgerutscht, weil vor ihr liegende Konkurrentinnen überführt worden waren. Dann flog sie selbst als fünfte Gedopte der 13 Finalistinnen des 1.500-m-Laufes auf.
Seit Einführung der Nachtests 2004 sind insgesamt 118 olympische Medaillengewinner nachträglich des Dopings überführt worden.