Handball-EM Anklopfen an die Weltspitze - das fehlt dem DHB-Team noch
Gegen Dänemark und Frankreich, die beiden Finalteilnehmer bei der Handball-Europameisterschaft, war das DHB-Team nah dran an einem Erfolg. Am Ende reichte es zweimal mit drei Toren Differenz knapp nicht zum Punktgewinn.
Wie breit ist die Weltspitze im Handball? Das ist erst einmal eine Definitionsfrage. Die Mannschaften, die über die vergangenen Jahre konstant bei großen Turnieren ablieferten, sind eigentlich Dänemark, Frankreich, Schweden und Spanien. Da die Spanier aber über einen mittlerweile etwas in die Jahre gekommenen Kader verfügen und bei dieser EM enttäuschten, gibt es Argumente, die Iberer zumindest aus dem obersten Regal zu streichen. Bleiben Dänemark, Frankreich und Schweden, das gegen die Franzosen und Dänen jeweils hauchdünn (und in beiden Fällen auch wegen strittiger Schiedsrichterentscheidungen in der Schlussphase) verlor.
Konstanz fehlt noch, Potenzial ist groß
Und dahinter? Ist noch eine Lücke, aber sie ist nicht mehr so groß wie noch vor einem oder zwei Jahren. Und hinter dieser Lücke hat sich die deutsche Mannschaft in diesem Turnier positioniert. Die direkten Duelle mit zwei der drei Weltbesten gingen verloren, das dritte wartet am Sonntag im Spiel um Platz drei (15 Uhr, live in der ARD und auf sportschau.de). Davon abgesehen fehlte der deutschen Mannschaft im Verlauf der EM die Konstanz. Das Turnier war eher eine "Achterbahnfahrt", wie auch Sportschau-Experte Dominik Klein es nannte.
Wenn man aber darauf schaut, dass die Deutschen im Halbfinale gegen Dänemark größtenteils mit Renars Uscins (21), Juri Knorr (23) und Julian Köster (23) auf den wichtigen Rückraumpositionen agierten und im Turnier auch Martin Hanne (22), Nils Lichtlein (21), David Späth (21) und Justus Fischer (20) Spielanteile bekamen, sind die Leistungsschwankungen mehr als erklärbar und es fällt leichter, sich vorzustellen, dass die sportliche Entwicklung der Mannschaft noch lange nicht abgeschlossen ist.
Tolle Entwicklung bei Renars Uscins
Gerade die couragierte Leistung von Uscins, der im Halbfinale zum Spieler des Spiels gewählt wurde, war in Abwesenheit von Routinier Kai Häfner besonders wichtig. Denn der rechte Rückraum, wo auch Linkshänder Lichtlein mal agieren kann, ist durch die vielen Verletzungen von Fabian Wiede ein Sorgenkind im deutschen Angriff der vergangenen Jahre gewesen. Und auch in naher Zukunft wird es dort neue Alternativen brauchen, Häfner ist 34, Christoph Steinert 33. Ewig werden die beiden nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen (können).
Dass sich Uscins im Turnierverlauf so positiv entwickelte und nach einer Handvoll Länderspiele bereits eine steile Lernkurve zeigte, ist bemerkenswert. Auch bei Juri Knorr, der sich nach dem Dänemark-Spiel so extrem selbstkritisch und enttäuscht von der eigenen Leistung präsentierte, ist in diesem Turnier eine Weiterentwicklung im Vergleich zu den vergangenen Jahren zu sehen.
Knorr verbessert sich in der Abwehr - starkes Turnier von Köster
Auch wenn Knorr offensiv über den gesamten Turnierverlauf nicht ganz das Feuerwerk abbrannte, das man von ihm mittlerweile ja sogar gewohnt ist, steht er in der Scorer-Wertung (47 Tore plus 29 Assists) bei dieser EM auf Rang zwei. Knorrs größte Entwicklung hat aber in der Defensive stattgefunden. Wurde er in den vergangenen Jahren ab und an noch auf der Außenposition "versteckt" oder ausgewechselt, deckte er gegen Dänemark vor allem in der ersten Halbzeit überragend auf der Halbposition. Auch das kann ein Grund sein, warum es bei ihm im Angriff in diesem Turnier nicht immer ganz so spielerisch aussah wie früher - die Belastung in der Defensive ist deutlich gestiegen.
Dass Julian Köster sowohl für seine Angriffsleistung als auch für seine Abwehrarbeit Kandidat für das Allstar-Team ist, sagt genug über seine tolle Entwicklung aus. Im linken Rückraum hat zudem Sebastian Heymann mit seiner Wurfgewalt ebenfalls einen Schritt nach vorn gemacht und seine noch nicht lang zurückliegende Verletzung immer mehr abgeschüttelt. Mit U21-Weltmeister Max Beneke steht zudem ein weiterer hochtalentierter rechter Rückraumspieler im Wartestand, der in den nächsten Jahren wahrscheinlich immer häufiger vom Bundestrainer nominiert werden wird.
Am Kreis hervorragend besetzt, Linksaußen alles in Ordnung
Auch wenn es noch nicht das Turnier des Justus Fischer war: Am Kreis hat das DHB-Team kein Problem. Johannes Golla (26), Jannik Kohlbacher (28) und eben der junge Fischer (20) sind ein Trio, mit dem man in den nächsten Jahren auf Topniveau weiterarbeiten kann.
Auf der Linksaußen-Position war Rune Dahmke (30) als "Energizer" und verlässlicher Schütze in diesem Turnier sehr präsent, Lukas Mertens (27) kam nicht ganz an seine Vorstellungen von vor einem Jahr heran, eine Problemposition ist die linke Seite trotzdem nicht.
Rechtsaußen war eher enttäuschend, Torhüter herausragend
Rechtsaußen war in diesem Turnier die wohl enttäuschendste Position. Nachdem sich Patrick Groetzki verletzte, war Timo Kastening der einzige Spezialist, erkrankte aber im Turnierverlauf und kam auch in seinen Spielen nicht an sein Optimum heran. Steinert ersetzte ihn teilweise und machte das ordentlich, einen zuverlässigen Schützen, der auch aus einem ganz schwierigen Winkel regelmäßig trifft und auch das Gegenstoßspiel bereichert, braucht das DHB-Team dringend. Kastening kann das sein, das hat er schon bewiesen, dieses Niveau muss er aber auch erst einmal wieder erreichen. Bei Lukas Zerbe kann man noch auf einen Entwicklungssprung hoffen: Im Sommer wechselt er zum THW Kiel und spielt und trainiert dann regelmäßig auf allerhöchstem Niveau.
Im Tor hat Deutschland keine Sorgen. Andreas Wolff ist einer der besten Keeper der Welt und dürfte, wenn sein Körper es zulässt, noch einige Jahre auf Topniveau spielen. Dahinter zeigte David Späth bei seinen Einsätzen starke Leistungen, Joel Birlehm bekommt ab dem Sommer wohl auch in der Bundesliga wieder mehr Spielzeit und war bei der vergangenen WM sehr stark und in Lasse Ludwig steht schon der nächste Youngster in den Startlöchern.
Erfahrung, Physis und Breite fehlen (noch)
Es fehlt auf einigen Positionen an Tiefe und an absoluter Weltklasse, an fast keiner an Potenzial, aber auf fast allen an Erfahrung auf Topniveau, die gerade in K.o.-Spielen essenziell ist. Dazu könnte es nicht schaden, wenn in Sachen Körperlichkeit noch ein paar Prozentpunkte dazukommen. Gegen Frankreichs Kreisläufer oder das dänische Spiel mit dem siebten Feldspieler fehlte es in entscheidenden Eins-gegen-eins-Zweikämpfen in der deutschen Abwehr an ein paar Kilogramm und/oder maximaler Härte.
Dass das "Timing" der Entwicklung der Mannschaft nicht pünktlich zur Heim-EM auf dem Zenit war, ist ärgerlich, aber nicht zu ändern - und niemandem im Team vorzuwerfen. Unter den Halbfinalisten war keine Mannschaft mit ihrer Startformation jünger. Gislason nominierte die Nachwuchsspieler früh, für Knorr oder Köster ist es bereits das dritte große Turnier, aber Uscins und Co. sind eben nochmal ein Stück jünger. Da ist es für den DHB gut, dass schon 2027 die Heim-WM ansteht. Da sind die deutschen Schlüsselspieler größtenteils im besten Handballer-Alter - und dann gilt Jugend oder wenig Erfahrung auch nicht als Ausrede.
Natürlich: Dänemarks Simon Pytlick (23) und Mathias Gidsel (24) oder auch Torwart Emil Nielsen (26) sind allesamt auch noch jung, genau wie Frankreichs Dika Mem (26) oder Elohim Prandi (25). Die Konkurrenz bleibt also absehbar stark. Das muss den DHB aber nicht entmutigen, den Weg weiterzugehen - und schon am Sonntag den nächsten Schritt zu machen.
Spiel um Platz drei ist die nächste Prüfung
Das Spiel um Platz drei gegen (Noch-)Titelverteidiger Schweden ist die nächste Prüfung auf dem Weg in die Elite, das dritte direkte Duell mit den drei stärksten Mannschaften der Welt. "Ich freue mich auf ein intensives Match gegen eine absolute Weltklassemannschaft", sagte Andreas Wolff am Samstag. "Ich denke, es ist Zeit für uns, so eine Mannschaft mal wieder zu schlagen." Platz drei bei der Heim-EM würden nicht nur eine Medaille und die direkte Olympia-Qualifikation mit sich bringen, es wäre auch ein Statement der deutschen Handballer.
"Wenn wir Bronze holen sollten, wäre das mehr als irgendjemand von uns erwartet hat vor dem Turnier", sagte Rune Dahmke. "Das wäre ein Monster-Erfolg von uns." Wolff und Dahmke, zwei der Erfahrensten im jungen deutschen Handballnationalteam, wurden 2016 mit dem DHB Europameister. Sie wissen, wie sich Weltspitze anfühlt.