Halbfinalisten bei der Handball-EM Dreimal Goliath und der deutsche David
Die deutschen Handballer stehen bei der EM im Halbfinale. Und so sehr das DHB-Team sich das auch verdient hat: Die anderen drei Halbfinalisten Dänemark, Frankreich und Schweden sind nochmal ein anderes Kaliber.
Wenn Handballtrainer davon sprechen, dass sie gern jede Position doppelt gut besetzt haben wollen, ist das fast immer bloß eine Wunschvorstellung. Kaum eine Mannschaft kann es wirklich über 60 Minuten kompensieren, wenn mehrere ihrer Leistungsträger mal einen weniger guten Tag haben.
Zwei glückliche Trainer, die bei dieser EM aber genau das können, sind Dänemarks Nikolaj Jacobsen und Frankreichs Guillaume Gille. Folgerichtig sind beide Nationen auch jeweils als Gruppensieger ihrer Hauptrundengruppe für das Halbfinale qualifiziert. Die Dänen treffen am Freitag (26.01.2024) auf Deutschland, Frankreich bekommt es mit Schweden zu tun. Dänemark, Frankreich und Schweden standen bei den letzten drei großen Turnieren allesamt im Halbfinale und verfügen über erfahrene und durchweg top besetzte Kader.
Dänemarks Luxus: Landin ist nur die 1b
Bei den Dänen ist die Auswahl wohl am größten. Denn während die Franzosen zwar alle Feldspieler ohne echten Qualitätsverlust austauschen können, haben die Dänen diesen Luxus sogar im Tor. Niklas Landin, mehrfacher Welthandballer, ist bei dieser Handball-EM aktuell nicht der stärkste Torwart im dänischen Aufgebot - zumindest was die Zahlen und die Form angeht. Das liegt daran, dass Emil Nielsen vom FC Barcelona ein überragendes Turnier spielt. Eine Fabel-Quote von 40 Prozent gehaltenen Bällen ist der Bestwert unter den Keepern bei der Europameisterschaft. Bis zum letzten und sportlich bedeutungslosen Hauptrundenspiel gegen Slowenien hatten die Dänen in diesem Turnier alles gewonnen - am knappsten war es beim 28:27 gegen Schweden.
Jacobsen schont seine Topspieler
Das letzte Hauptrundenspiel ging dann mit 25:28 (14:17) verloren. Das ist insofern zwar durchaus bemerkenswert, als dass damit eine Serie von 16 siegreichen Spielen bei großen Turnieren endete und der Nimbus der Unbesiegbarkeit des Weltmeisters von 2023 verloren ging, auf der anderen Seite konnten die Dänen aber auch wertvolle Kräfte sparen. Mathias Gidsel (Füchse Berlin), Simon Pytlick (SG Flensburg-Handewitt) und Magnus Saugstrup (SC Magdeburg) wurden komplett geschont, andere Akteure bekamen mehr Spielanteile als sonst.
Im Hinblick auf die hohe Belastung bei diesem Turnier ist das also ein zusätzliches Pfund und die knappe Niederlage gegen hochmotivierte Slowenen, die noch in das Spiel um Platz fünf einziehen wollten, sollte nicht zu hoch gehängt werden. Die Dänen sind vor allem mit ihren Bundesliga-Topspielern rund um das genannte Trio, ihren Torhütern und dem überfallartigen Gegenstoßspiel der große Favorit auf den EM-Titel.
Palicka, Tempo und Entlastung für Gottfridsson - Schweden mit großen Ambitionen
Wer gegen den Topfavoriten unglücklich mit einem Treffer verliert, ist natürlich ebenfalls ein ernstzunehmender Kandidat auf die Europameisterschaft. Als Titelverteidiger sind die Schweden ohnehin mit den größtmöglichen Ambitionen angereist. Nach der Niederlage gegen die Dänen haben auch die Schweden in ihrem letzten Hauptrundenspiel nur noch um die goldene Ananas gespielt, dass sie Gruppenzweiter werden würden, stand bereits vorher fest. Geschont hat der norwegische Coach Glenn Solberg in diesem Spiel deshalb unter anderem Torwart Andreas Palicka, der bisher eine herausragende EM spielt.
Palickas Paraden sind ein ganz wichtiger Faktor für den Erfolg der "Tre Kronor". Denn eine der größten Stärken ist ihr bedingungsloses Tempospiel, dabei helfen viele gehaltene Bälle natürlich. Kein Wunder also, dass die beiden pfeilschnellen Linksaußen Hampus Wanne und Lucas Pellas die beiden besten Schützen der Mannschaft im Turnier sind. Im Rückraum ist Flensburgs Jim Gottfridsson weiter der große Schlüsselspieler, aber auch Magdeburgs Felix Claar und Veszprems Lukas Sandell haben gut ins Turnier gefunden und entlasten Gottfridsson punktuell.
Frankreichs Bellahcene: Einziger Bundesliga-Legionär, aber extrem wichtig
Während bei Dänemark und Schweden ein Großteil der Spieler im Aufgebot in der Bundesliga spielt - Schweden hat allein vier Magdeburger, Dänemark fünf Flensburger - ist das bei Frankreich mittlerweile anders. Die Zeiten, in denen die Franzosen größtenteils in der deutschen Beletage ihr Geld verdienten, ist vorbei. Der eine verbliebene Bundesliga-Legionär ist aber in diesem Turnier besonders wichtig: Torwart Samir Bellahcene, derzeit von Dunkerque an den THW Kiel ausgeliehen, hat dank seiner starken Leistungen im Turnier mittlerweile Remi Desbonnet den Status als Nummer 1A abgelaufen.
Die Torhüterposition galt vor dem Turnier als die wahrscheinlichste Schwachstelle im ansonsten überragenden französischen Kader. Und auch wenn Bellahcene ein wirklich sehr ordentliches Turnier spielt, hat Frankreich auf dieser Position, die Bundestrainer Alfred Gislason jüngst als "wichtigste im Handball" bezeichnete, gegenüber den anderen Halbfinalisten einen kleinen Nachteil. Es ist der einzige.
Frankreichs Trainer Gille hat keine echte erste Sieben
Frankreichs Trainergespann um Chefcoach Gille verteilt schon über den gesamten Turnierverlauf die Spielanteile sehr gleichmäßig und hat de facto keine echte erste Sieben. Größte Waffe ist eben auch die individuelle Klasse der Franzosen, dazu ihre überragende Physis und Athletik und die große Erfahrung auf höchstem Niveau.
Die erfahrene Mannschaft bestraft jede gegnerische Schwächephase mit aller Konsequenz - oft sind die Partien gegen sie lange einigermaßen eng, dann leistet der Gegner sich zwei, drei Fehler hintereinander und die Franzosen machen daraus in 90 Sekunden drei Tore. So geschehen gegen Deutschland, so geschehen auch im letzten Hauptrundenspiel gegen Ungarn, als es für Frankreich zwar um nichts mehr ging, Gille aber nicht groß schonen musste, weil ja ohnehin alle Spieler regelmäßig Pausen bekommen. Lediglich Bellahcene und vor allem Routinier Nikola Karabatic wurden mal komplett rausgenommen, der ist aber auch schon 39 Jahre alt.
Das Spiel über die französischen Kreisläufer konnte in diesem Turnier zudem eigentlich niemand wirklich verteidigen, Ludovic Fabregas und Nicolas Tournat sind, wenn es mal enger wird, fast immer das Ziel der französischen Angriffszüge - und dabei fast immer erfolgreich. Fabregas bringt es im Turnierverlauf auf 32 Treffer bei 36 Versuchen - auch für einen Kreisläufer, der ja sehr nah am Tor abschließt, ist das eine überragende Ausbeute.