Österreichische Spieler jubeln über den Sieg gegen die Niederlande
analyse

Spektakuläres EM-Spiel Österreich geht All-in - und überfordert die Niederlande

Stand: 26.06.2024 08:33 Uhr

Es war eines der besten Spiele dieser Fußball-Europameisterschaft: Österreich überrumpelte mit Powerfußball die Niederlande. Und während die sich zurecht selbstkritisch zeigen, haben Ralf Rangnick und Co. noch viel vor.

Von Johannes Mohren, Berlin

Es dauerte nur 34 Minuten, bis Ronald Koeman genug hatte. Der Bondscoach war entnervt - und er reagierte: Xavi Simons kam für Joey Veerman. Übereilt fiel dieser Entschluss nicht. Der Mittelfeldspieler von RB Leipzig hatte sich trotz des frühen Zeitpunktes schon lange auf dem schmalen Kunstrasenstreifen am Spielfeldrand warmgemacht.

Denn der Handlungsbedarf war eklatant. Das lag am schwachen Auftritt der Niederlande selbst. "Haben Sie Zeit, ich könnte einige Fehler aufzählen?", fragte Koeman. Aber es lag auch an der starken Performance Österreichs. "Wir sind brutal gut reingekommen. Wir konnten von Anfang an All-in gehen", sagte Trainer Ralf Rangnick.

Koeman: "Das war wirklich furchtbar"

Lange, erzählte der 65-Jährige, hätten er und sein Team an der Startelf getüftelt. Mit einem Ergebnis, das er selbst "ziemlich unerwartet" nannte. Vier Mal wechselten die Österreicher im Wissen, dass ein Aus in der Gruppenphase fast ausgeschlossen war. So durften zum Beispiel für die - mit Gelb vorbelasteten - Führungsspieler Konrad Laimer und Christoph Baumgartner erstmals bei einer EM Romano Schmid und Patrick Wimmer starten.

Der Plan funktionierte - und wie: Die Niederländer gingen im aggressiven Spiel der Österreicher förmlich unter. Veerman war nur ein Symbol für diese Überforderung. Bis zur Auswechslung kamen lediglich 44 Prozent seiner Pässe unter dem Dauerdruck des Gegners an. "Die Spieler sind viel gelaufen, aber nicht auf den richtigen Positionen. Das war wirklich furchtbar. Wir haben das Spiel nicht kontrolliert", haderte Koeman.

Österreich mit gefeierten Ballstafetten

Und es hätte für die Niederländer noch weitaus furchtbarer aussehen können. Doch die Österreicher zeigten nur das fast perfekte Spiel. Was fehlte? Die Zielstrebigkeit in den von den Fans mit "Hooooo-ey"-Rufen gefeierten Ballstafetten. So hatte Österreich nach zwanzig Minuten nur einen eigenen Torschuss abgegeben.

Für die Führung brauchten sie gar keinen: Für die sorgte Donyell Malen - per Eigentor. War es bei diesem Turnier bereits das siebte, bedeutete es für die "Elftal" eine unliebsame Premiere bei einer Europameisterschaft.

Nun war nicht alles schlecht bei den Niederländern. Zu Beginn der zweiten Hälfte hatten sie ihre beste Phase. "Wir sind mehr in unser eigenes Spiel und in die Intensität gekommen", sagte Stürmer Wout Weghorst - zu dem Zeitpunkt noch mit bestem Blick von der Bank - im Interview mit der Sportschau. "In der zweiten Halbzeit haben wir im Eins gegen eins bessere Leistungen gezeigt", sah auch Koeman einen leichten Aufwärtstrend.

Sabitzer: "Wir verlieren nie unsere Linie"

Cody Gakpo - in der ersten Hälfte noch komplett auf Tauchstation - traf zum 1:1. Der Torschuss war erst der 14. Ballkontakt des Außenstürmers. Und plötzlich war spürbar, dass Österreich verwundbar ist. Die Partie wurde zum Spektakel. "Natürlich war nicht alles perfekt", sagte Marcel Sabitzer der Sportschau. Aber genau in diesem Moment des Wankens zeigten der ÖFB-Kapitän und sein Team auch, wie gefestigt sie aktuell sind.

Denn was die verbesserte Niederlande auch lieferte - Österreich hatte eine Antwort und am Ende das letzte Wort. Eine Qualität, die auch Sabitzer hervorhob: "Wir kommen immer wieder zurück und verlieren nie unsere Linie. Wenn es mal wackelt, fangen wir uns relativ schnell wieder und halten an dem fest, was uns auszeichnet."

Der zweitkleinste Spieler der EM trifft per Kopf

Zu diesen Fähigkeiten zählte zumindest an diesem Abend im Olympiastadion neben der Intensität auch die Effektivität. Zwei Torschüsse hatten die Österreicher in der zweiten Hälfte - und sie reichten für zwei Treffer. Den ersten erzielte Romano Schmid und der zweitkleinste Spieler traf - ausgerechnet - mit einem perfekt getimten Kopfball.

Machte Schmid beim zwischenzeitlichen 2:1 für die Österreicher seine Körpergröße vergessen, so glich auch der Siegtreffer zum 3:2 einem Kunststück. Aus spitzestem Winkel krönte der Kapitän persönlich seine Leistung. Sabitzer - später auch offiziell als "Player of the Match" ausgezeichnet - war an sechs von zehn Torschüssen seines Teams direkt beteiligt.

Depay und sein verpasster Befreiungsschlag

Und er verhinderte mit seinem Treffer, dass die große Geschichte des Spiels eine andere wurde. Die von Memphis Depay nämlich. Der niederländische Stürmer hatte für seine Mannschaft in dem aufregenden Schlagabtausch zuvor das 2:2 erzielt. Anerkannt nach Minuten des VAR-Zitterns. Das Tor ließ die "Elftal" kurzfristig wieder auf Gruppenplatz eins schielen, es war aber vor allem auch eine ganz persönliche Befreiung für Depay.

Denn er war das Thema unter den knapp 18 Millionen Bondscoaches gewesen - und somit auch auf der Pressekonferenz vor der Partie. Da war der 30-Jährige allgegenwärtig, obwohl er gar nicht anwesend war. Jede zweite Frage - ein gefühlter, aber doch realistischer Wert - drehte sich um den Stürmer, der sich eigentlich anschickt, Robin van Persie als Rekordtorschütze seines Landes abzulösen. Aber eben noch ohne Treffer bei dieser EM war.

Österreicher freuen sich auf Rudelgucken

Am Ende verkam sein Tor zur Randnotiz. Die Niederländer waren längst vom Platz geschlichen, als die Österreicher noch in ihrer Kurve feierten. Eingehakt und ergriffen konnten sie spürbar gar nicht genug davon bekommen, wie tausende Fans in der idyllischen Abendstimmung des Olympiastadions beseelt "I am from Austria" intonierten.

Nun steht erst einmal Entspannung an. Die Familien dürfen mit ins Hotel, Rangnick hat einen freien Tag gegeben. "Wir werden jetzt mal runterfahren und uns die Spiele gemütlich anschauen, weil wir alle Fußballfans sind und so eine EM auch genießen", sagte Sabitzer. Da werden sie dann auch erfahren, auf welchen Gruppendritten sie am Dienstag (02.07.2024, 21 Uhr) in Leipzig treffen werden. Die Optionen: Türkei, Tschechien oder Georgien.

Sabitzer: "Wir wollen bis zum Ende gehen"

Präferenzen, Herr Sabitzer? "Wir nehmen, was kommt. Weil wir bis zum Ende gehen wollen, und dann musst du eh jeden schlagen", sagte Sabitzer. "Wir wollen zeigen, was in dieser Mannschaft ist und so weit kommen wie möglich. Jetzt sind wir Gruppensieger geworden, das ist eigentlich unglaublich", sagte sein Trainer. Das klingt beides sehr selbstbewusst. Und das können die Österreicher auch sein an einem Tag, an dem sie Niederlande-Coach Ronald Koeman schon nach 34 Minuten entnervt zum Wechseln zwangen.