ARD-Experte Thomas Hitzlsperger
interview

Gespräch mit Sportschau-Experte Hitzlsperger: "Kann für das Finale reichen"

Stand: 25.06.2024 18:25 Uhr

Thomas Hitzlsperger sieht die deutsche Nationalmannschaft als gut genug an, das Finale der EM 2024 zu erreichen. Außerdem sprach der Sportschau-Experte über Havertz oder Füllkrug, die Weltklasse von Musiala und Wirtz sowie den DFB und die Politik.

Sieben Punkte, Gruppensieg, Deine Bilanz der deutschen Vorrunde bitte.

Thomas Hitzlsperger: Die Mannschaft hat gerade im Auftaktspiel hervorragend Fußball gespielt, auch gegen Ungarn vieles richtig gemacht. Erst im Spiel gegen die Schweiz hat man gesehen, dass wenn ein Gegner wartet, der sehr die Mitte verdichtet, wie schwierig es dann geworden ist, über außen zu kommen.

Was ist schon gut? Wo muss die Mannschaft noch deutlich arbeiten?

Hitzlsperger: Die Torausbeute ist sehr, sehr gut. In der Vergangenheit gab es immer wieder Spiele, in denen die Mannschaft dominant war, Chancen hatte, aber nicht getroffen hat. Jetzt, bei dieser EM, ist es anders. Das ist sehr, sehr erfreulich, acht Tore in drei Spielen erzielt zu haben. Auch viele Automatismen sind besser geworden. Dennoch war das Spiel gegen die Schweiz wichtig, um zu sehen, was man eben tun muss, wenn ein Widerstand kommt. Das haben Spieler einzeln angesprochen: Es werden Widerstände kommen, wir müssen sie überwinden, und dafür war vielleicht genau dieses Spiel richtig.

Mit Blick auf die K.o.-Spiele und die drohenden Gegner: Wie gut ist die deutsche Fußballnationalmannschaft?

Hitzlsperger: Ich würde vielleicht eher noch über andere Mannschaften sprechen. Im Vergleich hat es nämlich kaum eine Mannschaft gegeben, die so viel besser war als die deutsche Mannschaft. Ja, die spanische Mannschaft spielt gut, Portugal hat ein gutes und ein weniger gutes Spiel gemacht. So, da war alles dabei. Daher bin ich sehr zuversichtlich, dass der Kader, der Deutschland zur Verfügung steht, das, was sie gezeigt haben, reichen kann, um auch ins Finale zu kommen. Da ist mir überhaupt nicht angst und bange.

Hat Dich irgendwas überrascht bei der deutschen Mannschaft? Es war ja sehr vieles schon vorhersehbar, die Aufstellung, die Spielweise eigentlich auch.

Hitzlsperger: Erstaunlich war, dass Julian Nagelsmann nach den zwei Niederlagen gegen Österreich und die Türkei in den Testspielen einen harten Cut gemacht hat. Er hat die Nominierungen verändert, neue Spieler gebracht, aber auch das System und die Auswahl der Spieler verändert.

Er hat sich klar festgelegt, hat sich früh festgelegt und es jetzt durchgezogen. Das ist bemerkenswert für einen Trainer, der in der Vergangenheit oft gewechselt hat, entweder die Anfangsformation oder auch während eines Spiels häufig. Ja, er reagiert immer noch auf Geschehnisse im Spiel. Dennoch ist er sehr klar in seiner Ausrichtung und möchte nicht ständig den gegnerischen Trainer überraschen mit neuen Taktiken und sonstigen Dingen.

Julian Nagelsmann hat vor dem Spiel gegen die Ukraine, als die beiden Profis von Real Madrid - Toni Kroos und Antonio Rüdiger - fehlten, gesagt: Jetzt spielen Waldemar Anton und Pascal Groß, weil die am nächsten dran sind. Jetzt wurde gegen die Schweiz Nico Schlotterbeck statt Waldemar Anton eingewechselt. Emre Can wurde nachnominiert, obwohl er vorher nie bei Nagelsmann gespielt hat, und einem Pascal Groß vorgezogen. Verliert der Bundestrainer an Glaubwürdigkeit?

Hitzlsperger: Das hängt davon ab, wie er im persönlichen Gespräch mit den Spielern weiter umgeht. Sie sehen sich jeden Tag, und da ist es wichtig, dass er ihnen klar sagt, wie ihre Rolle ist, was sie zu erwarten haben. Öffentliche Äußerungen dienen ja auch manchmal dazu, den Gegner vielleicht ein Stück weit zu täuschen, in die Irre zu führen. Entscheidend ist, dass die Spieler dieses Vertrauen haben.

Es ist richtig, so etwas kann schon zum Vertrauensverlust führen. Aber ich vertraue darauf, dass der Bundestrainer und der ganze Staff die Spieler klar daran erinnern, was ihre Aufgabe ist. Dass es sein kann, dass sie bis zum letzten Spiel warten müssen, um dann ihre Chance zu bekommen.

Hitzlsperger: "Die Erfahrung ist vorhanden"

Gerade bei den Stuttgartern sind ja einige dabei, die noch nie so auf dem ganz hohen Niveau gespielt haben. Maximilian Mittelstädt als Stammspieler hat noch nie ein Champions-League-Spiel bestritten. Wie wichtig ist Erfahrung in so einem großen Turnier?

Hitzlsperger: Die Mannschaft hat sehr viel Erfahrung, sie ist – bezogen auf den gesamten Kader - die älteste Turniermannschaft, wenn ich mich nicht irre. Die Erfahrung ist vorhanden, und man hat auch ein paar sehr junge Spieler wie Jamal Musiala und Florian Wirtz in der Anfangself, die diesen Mix sehr gut hinkriegen.

Das war jetzt schon häufiger Thema. Das sehe ich überhaupt nicht als Problem. Im Gegenteil, ich sehe das als eine sehr, sehr gute Mischung.

In den vergangenen Jahren wurde viel über Baustellen gesprochen in der deutschen Nationalmannschaft: Außenverteidiger, dann kamen sogar die Sechser dazu, Mittelstürmer. Wo siehst Du momentan Problemzonen?

Thomas Hitzlsperger: Erstmal keine offensichtliche. Wir haben die Außenverteidigerpositionen gut besetzt. Wir haben im Mittelfeld eine hervorragende Besetzung, mit das Beste, was es hier im Turnier gibt. In der Offensive haben wir jetzt auch Tore erzielt. Daher gibt es nicht dieses eine Problem. Es ist nur so: Was tun wir, wenn ein Gegner es nicht zulässt, dass wir ständig durch die Mitte spielen? Wie reagiert man? Was ist der Plan B? Können wir über außen flanken und in der Mitte zwei, drei, vier gute Kopfballspieler haben, um dieses Mittel zu wählen?

Havertz oder Füllkrug?

Hitzlsperger: Das hängt auch immer vom Gegner ab und wie man spielen will. Die beiden sind unterschiedliche Typen. Kai Havertz ist zwar auch kopfballstark, aber Niclas Füllkrug ist der beste Kopfballspieler in der Spitze. Wenn sich das Spiel verändert, dann ist Niclas Füllkrug Gold wert. Aber Kai Havertz leistet durch seine vielen Laufwege, durch die Technik, die er mitbringt, einen großen Beitrag in der Art, wie die Mannschaft zusammenspielt, dieses Kurzpassspiel, was wir häufig jetzt gesehen haben.

Mittelstädt oder Raum?

Hitzlsperger: Da möchte ich mich nicht blenden lassen von einem Spiel und würde weiterhin bei Maxi Mittelstädt bleiben, weil er gerade defensiv extrem gut ist. David Raum ist wahrscheinlich im Flankenspiel besser, aber im Gesamtpaket würde ich nach wie vor auf Maxi Mittelstädt setzen.

Ein fünftes Spiel mit derselben Startelf wird unmöglich sein, weil Jonathan Tah gesperrt ist. Wen siehst du an Antonio Rüdigers Seite, sollte der rechtzeitig fit werden?

Hitzlsperger erwartet Schlotterbeck neben Rüdiger

Hitzlsperger: Es war ein klares Signal von Julian Nagelsmann, Nico Schlotterbeck zu bringen, ihm schon eine halbe Stunde zu geben, sich einzuspielen mit Antonio Rüdiger. Ich gehe davon aus, dass Antonio Rüdiger fit sein wird und dass die beiden dann zusammenspielen.

Da hat man wieder den Vorteil: Man hat einen Linksfuß mit Schlotterbeck und einen Rechtsfuß mit Toni Rüdiger. Das kann helfen.

Nach dem Auftaktspiel gegen Schottland wurde viel über "Wusiala" gesprochen. Es ist jetzt ein bisschen ruhiger geworden. Gegen die Schweiz hat sich Musiala oft festgedribbelt. Wie weit sind die beiden noch von Weltklasse entfernt?

Thomas Hitzlsperger: Sie haben oft schon Weltklasse gezeigt. Bei Jamal Musiala würde ich eine vielleicht für seine Verhältnisse schwächere Leistung , was immer noch sehr gut ist, überhaupt nicht weiter bewerten. Der Junge ist sensationell gut, und das haben jetzt alle gesehen.

"Wirtz scheint ein bisschen müde zu sein"

Bei Florian Wirtz hatte ich an der einen oder anderen Stelle den Eindruck, dass er ein bisschen müde ist. Es war eine brutal harte Saison für ihn. Er war überragend für Bayer Leverkusen.

Es blitzt bei ihm immer wieder auf. Man sieht die Dribblings, aber vielleicht haben ein paar Tiefenläufe bei ihm gefehlt. Ich wünsche mir sehr, dass er wieder die Power hat, genau das zu machen. An den beiden sollten und dürfen wir nicht rütteln. Das ist unsere Zukunft, und selbst in der Gegenwart sind sie schon mit die besten Spieler in dieser Mannschaft.

Jamal Musiala und Florian Wirtz sind die einzigen beiden Spieler unter 25 Jahren aus der Startelf. Antonio Rüdiger hat gesagt, eine Mannschaft ist immer nur für den Moment da. Wie bewertest Du die Perspektive dieser Nationalmannschaft und dann auch weiter gefasst die des deutschen Nachwuchsfußballs?

Hitzlsperger: Nun, wir sind Weltmeister geworden mit der deutschen U17. Das ist noch gar nicht so lange her. Also wenn man mal darauf blickt, dann sieht es erstmal gut aus.

Es geht aber erstmal nur um diese Europameisterschaft. Ich glaube auch, es ist nicht der richtige Zeitpunkt, über die nächsten Jahre zu sprechen. Alle wissen um das Durchschnittsalter, aber es geht um dieses Heimturnier. Das Ziel war, hier erfolgreich zu sein. Jetzt sind wir auf einem guten Weg, genau das zu erreichen. Nach dem Turnier kann man sich und muss man sich Gedanken machen: Wie kann man im Hinblick auf die nächste Weltmeisterschaft die Mannschaft verjüngen? Wer sind die Talente?

Blicken wir mal aufs Turnier. 24 Mannschaften, das ist jetzt nicht ganz neu, es ist aber seit 2016 auch noch nicht so lange her, dass es erweitert wurde. Bei der WM 2026 wird gesagt, dass bei dann 48 Mannschaften die Qualität leidet. Ich finde, gerade die kleineren Mannschaften wie Albanien, Georgien sind so die Farbtupfer und fallen leistungsmäßig auch wirklich nicht ab. Eine gute Entscheidung, 24 Mannschaften, oder würdest Du sagen: 16 reichen?

Hitzlsperger: Da muss man die Perspektive sehen. Als Fan, als jemand, der Fußball sehr gerne mag, bin ich dafür, viele Spiele zu sehen. Wenn man aber die Spieler fragt, dann ist es schon am Limit, immer wieder so viele Spiele zu bestreiten, kaum Pause zu haben, und dann geht es sofort wieder weiter im Ligaalltag.

Aber es geht auch nicht nur um die Spieler, sondern wir reden auch oft über die Fans, über die Stimmung, die Bilder, die wir sehen. Jetzt haben wir oft genug über die schottischen Fans gesprochen. Sensationell.

Alle Begegnungen waren irgendwie ein großes Vergnügen. Ich habe die Georgier gesehen, wie sie Fußball gespielt haben - bemerkenswert, weil man auch spürt, dass sie für was Größeres, für ihr Land spielen. Sie wollen die Leute hier begeistern und sind einfach offenes Visier nach vorne gerannt bisher. Das war war ganz, ganz toll. Albanien war ähnlich, und das macht so ein Turnier aus. Deswegen haben wir im Vorfeld gesagt, wir freuen uns auf die Begegnung mit Menschen aus so vielen Ländern, mit denen wir nie zusammenkommen würden. Aber der Fußball ermöglicht es, und deshalb ziehe ich ein sehr, sehr positives Fazit. Da freue ich mich über viele Spiele. Die WM wird eine große Anstrengung werden für die, die es organisieren müssen. Aber auch da werden wir tolle Bilder sehen.

Du reist jetzt als Experte viel durch Deutschland. Es wird immer wieder verglichen mit der WM 2006, zieh Du doch bitte auch mal den Vergleich.

Hitzlsperger: Es ist anders. Es ist trotzdem positiv. Anders heißt nicht, dass es schlecht ist, sondern es ist eine andere Zeit, in der wir uns befinden. Es kommt schon nah ran an diese WM, in dem Sinn dass sehr viele zufriedene Menschen zu sehen sind, dass in Deutschland eine Begeisterung vorherrscht für die deutsche Mannschaft, aber auch für andere Mannschaften. Eine Gastfreundschaft, die wir vorher haben wollten, die jetzt bestätigt wird.

Viele positive Elemente, aber nicht die Erwartung, dass Deutschland danach anders sein muss, dass diese Europameisterschaft unser Land brutal verändert.

Du bist ja selber auch engagiert in Sachen Vielfalt. Es gibt die Doku "Einigkeit und Recht und Vielfalt" der ARD. Wie hast Du die Diskussion auch um die Umfrage erlebt, die sich ja eigentlich dann auf einen Aspekt reduzierte?

Hitzlsperger: Da hat man gemerkt, dass die Mannschaft plötzlich wieder ein Thema hat, das unangenehm ist. Das wollen sie von sich weghalten. Sie haben sehr klar gesagt: Wir wollen genau das nicht haben. Es ist dann auch gelungen.

Da hat man wieder erlebt, wie etwas aus einem Kontext gerissen werden kann. Wir reden über eine ganze Doku. Da bleiben ein, zwei Aussagen hängen, die dann diskutiert werden. Wenn man dann das ganze Stück sieht, dann kann man differenzierter darüber urteilen. Aber das ist auch hier wieder die Zeit, in der wir leben. Eine Aufgeregtheit, sehr schnell entsteht eine Diskussion, die man vielleicht gar nicht so haben müsste, wenn man das ganze Bild sieht.

Kylian Mbappé hat sich unter anderem als die wichtigste Stimme gegen die rechtsextreme Partei in Frankreich ausgesprochen. Die deutsche Mannschaft war im Trainingslager in Thüringen. Da hat die AfD - eine dort laut Verfassungsschutz gesichert rechtsextreme Partei - bei Wahlen an die 30 Prozent der Stimmen bekommen. Bei Umfragen liegen sie sogar drüber. Würdest Du sagen, es ist auch an der Zeit, als DFB noch mehr Stellung zu beziehen gegen diese Tendenzen?

Hitzlsperger: Da ist meine Überzeugung, dass Vereine und Verbände und gerade auch der DFB immer wieder klar machen, dass sie gegen Diskriminierung und gegen Ausgrenzung sind und für Vielfalt. Alle müssen mithelfen. Also wir können nicht immer auf Verbände, Vereine oder nur die Politik zeigen mit dem Finger, sagen: Die müssen es lösen.

Das ist schon die Aufgabe von uns allen, wählen zu gehen, klar die Stimme zu erheben.

Mit Thomas Hitzlsperger sprach Marcus Bark

Anmerkung: Aufgrund der besseren Lesbarkeit weicht das verschriftlichte Interview an einigen Stellen leicht vom gesagten Wort ab.