Strafbefehl offenbart Betrugsdetails Mediziner vor Gericht: Dopingfall Seidenberg weitet sich aus
Sein Dopingfall schockierte vor zwei Jahren den deutschen Sport. Yannic Seidenberg, 173-maliger Eishockey-Nationalspieler, wurde für vier Jahre gesperrt. Nun kommen Betrugsdetails ans Licht - und der Fall zieht weitere Kreise.
Der Strafbefehl, den das Amtsgericht München am 18. Juni 2024 an Yannic Seidenberg verschickte, hatte es in sich. "Sie baten um eine höhere Dosierung, damit Sie die folgenden sechs Wochen 'gut auftrainieren' können", schrieb ein Amtsrichter dem ehemaligen Eishockey-Nationalspieler. Er bezog sich auf eine Kommunikation "per Messengerdienst" zwischen Seidenberg und dessen damaligen Arzt.
Aus dem Schriftstück mit dem Aktenzeichen Cs 384 JS 177215/22, das der ARD-Dopingredaktion vorliegt, geht hervor, dass einer der erfolgreichsten deutschen Eishockeyspieler - Silbermedaillen-Gewinner bei Olympia 2018 in Pyeongchang, dreimaliger Meister mit EHC Red Bull München, in mehr als 1.000 Spielen in der Deutschen Eishockey Liga (DEL) im Einsatz - im "tatgegenständlichen Zeitraum" von etwa einem Jahr zwischen September 2021 und 2022 Dopingsubstanzen von seinem Arzt verschrieben bekommen und regelmäßig konsumiert hat. Es handelte sich um eine Testosteron-Creme und die Steroidsubstanz DHEA, Mittel vor allem zum Muskelaufbau.
"In sämtlichen vorgenannten Fällen beabsichtigten Sie mit der Anwendung der Arzneimittel eine Leistungssteigerung bzw. schnellere Regeneration zu erreichen und sich damit in Wettbewerben des organisierten Sports einen Vorteil zu verschaffen", heißt es in dem Strafbefehl: "Eine medizinische Indikation lag in keinem der Fälle vor." Das bedeutet: "Vorsätzliche unerlaubte Anwendung von Dopingmitteln." Seidenberg hat diesen Strafbefehl akzeptiert, er räumt damit vorsätzliches Doping ein. Der Strafbefehl ist rechtskräftig.
Hausdurchsuchungen in München und Baden-Württemberg
Die nach Anti-Doping-Gesetz strafbaren Handlungen von Arzt und Spieler endeten am 14. September 2022. Damals fanden Ermittler "gegen 8:10 Uhr", wie im Strafbefehl festgehalten ist, bei einer Durchsuchung von Seidenbergs Wohnhaus in München die betreffenden Dopingsubstanzen. Am Abend desselben Tages suspendierte die Nationale Anti-Doping-Agentur (NADA) Seidenberg, und der Fall wurde öffentlich.
Seidenberg wies über seinen Anwalt damals eigene Schuld von sich. Es habe eine "medizinischen Indikation" vorgelegen. Seinem Arzt warf er vor, ihm entgegen seiner ausdrücklichen Anweisung Dopingsubstanzen verschrieben zu haben. Nun ist klar: Seidenberg belastete den Mediziner auch bei den Behörden. "Der Athlet hat den Arzt benannt und die eigene Kommunikation mit diesem offengelegt", teilte die für die Strafsache Seidenberg zuständige Staatsanwaltschaft München I auf ARD-Anfrage mit.
Yannic Seidenberg im Trikot seines langjährigen Klubs EHC Red Bull München
Auch der in Villingen-Schwenningen ansässige angeklagte Arzt bekam offenbar bereits Besuch von Ermittlern, allerdings erst zweieinhalb Monate nach der Hausdurchsuchung bei Seidenberg. Die Münchner Staatsanwaltschaft bestätigte, dass es im November 2022 eine Durchsuchung "einer Arztpraxis in Baden-Württemberg" gegeben habe, bevor sie den Fall Mitte Februar 2023 nach Freiburg abgab. Die Staatsanwaltschaft im Breisgau ist genau wie die in München auf Doping-Strafsachen spezialisiert. Auf Anfrage zum aktuellen Stand der Ermittlungen und zu Verfahrensdetails wollten sich die Freiburger nicht äußern.
Gerichtsverfahren im November: Seidenberg als Zeuge
Bestätigt wurde lediglich: Der betreffende Mediziner hat einen Strafbefehl wegen "vorsätzlichen unerlaubten Verschreibens von Dopingmitteln in drei Fällen" nicht akzeptiert. Deshalb kommt es am 6. November vor dem Amtsgericht Villingen-Schwenningen zur Hauptverhandlung gegen den Arzt. Dessen Identität ist der ARD-Dopingredaktion bekannt, sein Name wird aus rechtlichen Gründen nicht genannt. Weder der Arzt noch Seidenberg, angefragt über die jeweiligen Anwälte, äußerten sich. Seidenberg ist für die Verhandlung als Zeuge vorgesehen.
Die NADA erhofft sich derweil von dem Prozess in Villingen-Schwenningen "weitere Erkenntnisse", auch mit Blick auf mögliche weitere Täter und Hinterleute. "Aus Sicht der NADA ist das strafrechtliche Verfahren gegen den Arzt sehr wichtig, um auch wirklich Informationen zu bekommen, wie es zu dieser Behandlung kam, ob möglicherweise auch anderweitig Athletinnen und Athleten behandelt wurden. Diese Klarheit kann nur im strafrechtlichen Verfahren erlangt werden", sagt Lars Mortsiefer, Vorstandsvorsitzender der NADA, im ARD-Interview.
Dr. Lars Mortsiefer fungiert bei der NADA als Vorstandsvorsitzender
Sportrechtliches Verfahren läuft noch
Seidenberg hat den gegen ihn ausgestellten Strafbefehl akzeptiert, nachdem sein Geständnis und die belastenden Hinweise gegen den Arzt zu einer Reduzierung des Strafmaßes geführt hatten. Er wurde zu 90 Tagessätzen verurteilt, das entspreche laut Staatsanwaltschaft einer Geldstrafe im hohen vierstelligen Bereich. Yannic Seidenberg, jüngerer Bruder des noch erfolgreicheren Eishockey-Stars Dennis Seidenberg, ist damit nicht vorbestraft.
Seidenbergs Anwalt Rainer Cherkeh teilte schriftlich auf eine umfassende ARD-Anfrage lediglich mit: "Unser Mandant hat den Strafbefehl akzeptiert, um vor dem Hintergrund der mit einem Hauptverfahren einhergehenden erheblichen Belastungen - vor allem auch für das persönliche Umfeld - einen Schlussstrich zu ziehen. Nicht mehr und auch nicht weniger."
Seit Einführung des Anti-Doping-Gesetzes Ende 2015 ist es erst der zweite erfolgreich abgeschlossene Fall gegen einen namhaften Athleten. Der erste betraf den ehemaligen Box-Weltmeister Felix Sturm.
Sportrechtlich ist der Fall Seidenberg noch immer nicht beendet. Der 40-Jährige, so bestätigte die NADA, kämpft noch vor dem internationalen Sportgerichtshof CAS um eine Reduzierung seiner Vierjahressperre, die das deutsche Sportschiedsgericht im November 2023 verhängte. Offenbar hofft er auf eine Anstellung im Eishockey-Bereich, die ihm aber erst möglich ist, wenn seine Dopingsperre, die er noch als Spieler kassiert hat, abgelaufen ist.
Bis zu 55 Spiele unter Dopingeinfluss
Beim Blick auf die auch im Strafbefehl vermerkten zeitlichen Abläufe des Falles ergeben sich derweil weitere Fragen, die für den Anti-Doping-Kampf generell von Bedeutung sind. Von der letztlich als positiv gewerteten Dopingprobe, entnommen während einer Trainingskontrolle am 19. Januar 2022, bis zur Suspendierung am 14. September verstrichen fast acht Monate. Dies ist nach ARD-Informationen ein ungewöhnlich langer Zeitraum, selbst unter Einbeziehung der Tatsache, dass der Doping-Nachweis für die auch körpereigene Substanz Testosteron mitunter ein extrem aufwendiges Analyseverfahren erfordert.
Schon am 31. Oktober 2021, erklärte die NADA, habe eine Probe bei Seidenberg "Auffälligkeiten" ergeben. Dennoch betonte die in Bonn ansässige Organisation, dass zwischen dem Zeitpunkt der Probenahme im Januar und der Information an die Staatsanwaltschaft Anfang September "nicht unverhältnismäßig viel Zeit vergangen" sei und verwies auf die komplizierten Bestätigungsanalysen.
Seidenberg bestritt in diesen acht Monaten, in die auch die Sommerpause fiel, 23 Spiele für Red Bull München, mutmaßlich unter Dopingeinfluss. Nachdem er am 18. September 2021 über eine Apotheke in Starnberg die verbotenen Mittel bezogen hatte, stand er 55-mal für den viermaligen deutschen Meister auf dem Eis.
Integrität des Wettkampfes vs. Aussicht auf Ermittlungserfolg
Der positive Befund der Dopingprobe vom 19. Januar habe laut NADA erst am 1. September 2022 vorgelegen, tags darauf habe man Anzeige bei der Staatsanwaltschaft München gestellt. Bis zu seiner Suspendierung zwölf Tage später kam Seidenberg noch zweimal in der Champions League zum Einsatz. Es waren die letzten Spiele seiner Karriere.
Mit Blick auf jene zwölf Tage erklärte Mortsiefer im ARD-Interview: "Die Staatsanwaltschaft übernimmt in diesem Fall die Hoheit über das Verfahren und belegt die NADA mit einer Informationssperre." Doch auch für die NADA zählt offenbar zumindest vorübergehend die Aussicht auf spektakuläre Ermittlungserfolge mehr als die Integrität des sportlichen Wettkampfs. Für "einen kurzen Zeitraum", sagt Mortsiefer, nehme man in Kauf, dass "möglicherweise der sportliche Wettbewerb nicht diesen Fairnesscharakter" aufweise, als wenn man zu einem früheren Zeitpunkt eine Suspendierung ausspreche.