Freitauchen – ein Extremsport und sein Dopingproblem Gedopt ins dunkelblaue Loch
Das Freitauchen gehört zu den gefährlichsten Extremsportarten der Welt. Nun hat die Szene mit einem Dopingproblem zu kämpfen. Der Weltverband ist alarmiert, auch weil die Zahl von zum Teil lebensbedrohlichen Unfällen rasant steigt. Gibt es gar einen Zusammenhang?
Als die Betreuer den Freitaucher Alexei Molchanow an die Oberfläche zogen, war der Russe dem Tode nah. Mit nur einem Atemzug und ohne weitere Hilfsmittel hatte er eine Tiefe von 103 Metern erreicht, auf dem Rückweg verlor er 70 Meter weiter oben bei einem sogenannten Blackout abrupt das Bewusstsein. Der Albtraum eines jeden Freitauchers.
Die erste Luft, die schließlich nach mehr als vier Minuten "apnoe" (ohne Atmung) in seine Lungen strömte, war die eines Ersthelfers bei der Mund-zu-Mund-Beatmung. Molchanow überlebte - und trug in einer der gefährlichsten Extremsportarten der Welt durch den Zwischenfall zu einer Statistik bei, die die Branche längst in Alarmstimmung versetzt hat.
Blackout-Anstieg um mehr als 50 Prozent
2023 stieg die Zahl der Blackouts im Vergleich zum Vorjahr bei offiziellen Wettkämpfen des Weltverbandes AIDA um 132 auf 390 Fälle. Den Zuwachs von mehr als 50 Prozent versucht die AIDA mit einer höheren Anzahl an Wettbewerben zu rechtfertigen. Die Zahl der Events stieg 2023 im Vergleich zum Vorjahr allerdings nur um etwa 20 Prozent. Und die hohen Blackout-Zahlen sind nicht das einzige Problem, das die Szene derzeit beschäftigt. Nach einigen Dopingfällen in den vergangenen Jahren herrscht längst flächendeckend Misstrauen.
"Seit die Diskussion so intensiv ist, betrachtest du manche Athleten mit anderen Augen. Und bei mir hat das so weit geführt, dass ich ein Stück weit meine Motivation verloren habe", sagt die mehrfache Weltmeisterin Jennifer Wendland aus Essen im Gespräch mit der ARD-Dopingredaktion. Sie sei sich sicher, dass sie regelmäßig "gegen Leute antreten muss, die mit Mittelchen nachhelfen".
Beruhigungsmittel, Abführmittel, Viagra
Ein Fall, der die Community ganz besonders beschäftigt, hat sie und weitere Athletinnen und Athleten dazu veranlasst, die Initiative "Freedivers against Doping" ins Leben zu rufen. Im vergangenen Jahr kam es ausgerechnet im Mekka des Freitauchens zum Skandal. Auf den Bahamas zogen die Veranstalter des Vertical-Blue-Wettkampfs die beiden Kroaten Petar Klovar und Vitomir Maricic bei der Ankunft am Flughafen aus dem Verkehr.
In den Taschen der beiden Taucher fanden sich eine Reihe rezeptpflichtiger Medikamente, die bei Vertical Blue verboten sind: starke Beruhigungsmittel, Abführmittel und sogar Viagra, das wegen seiner gefäßerweiternden Wirkung von Athleten genutzt wird.
Die beiden Kroaten wurden von Vertical Blue ausgeschlossen. Sie stritten jede Dopingabsicht ab. Dennoch: Der in der Szene legendäre Wettbewerb, bei dem die Taucher ohne Hilfsmittel und Sauerstoff in ein dunkelblaues, 200 Meter tiefes Loch an der Küste der winzigen Insel Long Island hinabtauchen - er hatte seine Unschuld verloren.
Weltverband kündigt schärfere Kontrollen an
Tatsächlich komme momentan in Hinblick auf Doping in der Sportart "womöglich nur die Spitze des Eisbergs" zum Vorschein, sagt der Neuseeländer William Trubridge, Cheforganisator von Vertical Blue und als Apnoe-Taucher eine lebende Legende: "Wir kennen das volle Ausmaß nicht, aber es ist offensichtlich, dass Doping ein Problem geworden ist."
Der Grund dafür seien auch riesige Kontrolllücken, sagt Michael Nedwed vom deutschen Apnoe-Tauchverband AIDA Deutschland. "Wir haben derzeit nur bei Weltmeisterschaften und Weltrekordversuchen Dopingtests. Und es wird ausschließlich Urin getestet", sagt Nedwed: "Das ist absolut unzureichend. Die AIDA tritt seit Jahren auf der Stelle."
Auf ARD-Anfrage kündigte AIDA International an, die Anti-Doping-Politik noch in diesem Jahr drastisch zu verschärfen. Man wolle den WADA-Code unterzeichnen und ein deutlich strengeres Testsystem einführen. Unangekündigte Trainingskontrollen sollen ebenso dazugehören wie Bluttests, so, wie es bereits der zweite Weltverband praktiziert. Doch auch bei der CMAS wird deutlich weniger getestet als in anderen Sportarten. Nur vier Bluttests hat es der jüngsten WADA-Statistik zufolge im Jahr 2021 gegeben.
"Der heilige Gral im Freitauchen"
Wie groß der Argwohn innerhalb der Branche mittlerweile ist, belegen Aussagen eines anonymen Informanten, mit dem die ARD-Dopingredaktion sprechen konnte. "Ich würde sagen, Doping gibt es in den meisten Ländern Europas", sagte der Weltklasse-Freitaucher: "Ich denke, sie benutzen Steroide und Epo. Daher bekommen sie ihre massive Power."
William Trubridge glaubt, dass vor allem Substanzen wie Epo das Mittel der Wahl sind. Alles, was die Anzahl der roten Blutkörperchen erhöht, die für den Sauerstofftransport verantwortlich sind, sei interessant. Denn rote Blutkörperchen, so Trubridge, "sind der heilige Gral des Freitauchens".
Doch nicht nur klassische Doping-Substanzen sind ein Problem. Im Fokus stehen auch Mittel gegen Angststörungen, sogenannte Benzodiazepine. Athleten nutzen sie, um entspannt zu bleiben, den Puls niedrig zu halten und so die Voraussetzungen für längere Tauchgänge zu schaffen.
Auf Anfrage erklärt die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA, dass Benzodiazepine aus ihrer Sicht keine Dopingrelevanz hätten. Für Jennifer Wendland, deren Anti-Doping-Kampagne sich auch gegen diese Stoffe richtet, eine fatale Fehleinschätzung. In einem Sport, in dem mentales Training sehr wichtig sei, stellten diese Beruhigungsmittel eine Abkürzung dar, sagt sie: "Aber Benzodiazepine haben auch Nebenwirkungen. Es ist einfach gefährlich, wenn diese Stoffe weiter erlaubt bleiben." Wendland glaubt, dass die Mittel - solange es nicht unter Wasser zu potenziell lebensbedrohlichen Nebenwirkungen kommt - im Freitauchen leistungssteigernd wirken: Bleiben die Mittel erlaubt, "wird eigentlich jeder Athlet gezwungen, diese Stoffe zu nehmen, wenn er noch mithalten will".
Doping erhöht Unfallrisiko drastisch
Auch wenn Beweise noch fehlen: Viele Insider glauben mittlerweile, dass die gestiegene Zahl an Blackouts auch mit wachsendem Dopingmissbrauch zu tun haben könnte. Und Doping in einer Sportart, in der sich die Athleten in ein lebensfeindliches Umfeld wagen, macht das ohnehin schon immense Risiko praktisch unkalkulierbar. Gefahren wie Lungenquetschungen wegen des gewaltigen Wasserdrucks in der Tiefe oder die vielfältigen Probleme im Zusammenhang mit Sauerstoffmangel sind ständige Begleiter. "Und diese Gefahren würden natürlich durch eine Verlängerung der Tauchzeit, ausgehend von entsprechenden Substanzen, noch wesentlich erhöht werden", sagt der Tauchmediziner Konrad Meyne.
Freediving-Ikone Trubridge hat längst Angst, dass sich in seinem Sport eine Spirale dreht, die nur noch schwer zu stoppen ist. Wenn der Anti-Doping-Kampf nicht wesentlich nachhaltiger geführt werde, "dann werden andere das als Freibrief betrachten, und es passieren noch schlimmere Dinge".
Schlimme Dinge wie 2013, als Nicholas Mevoli an den Folgen einer Lungenquetschung starb, die er sich bei einem Weltrekordversuch zugezogen hatte - bei Vertical Blue. Einen Beleg für einen Zusammenhang mit Doping gab es damals nicht. Es ist bis heute der einzige offizielle Todesfall, den die AIDA in ihrer Statistik führt. Momentan scheint es nur eine Frage der Zeit, bis diese Statistik überholt werden muss.