Boxen Olympia-Qualifikation „Eigentlich hatte ich schon aufgegeben“ - Nelvie Tiafack löst Olympia-Ticket
Vor drei Jahren verpasste Nelvie Tiafack Olympia im entscheidenden Kampf. Dieses Mal schien seine Ausgangssituation für das internationale Qualifikations-Turnier des IOC für die Spiele in Paris, nach massiven gesundheitlichen Problemen, eigentlich aussichtslos. Doch der Super-Schwergewichtler hat den Widerständen getrotzt und als einziger männlicher deutscher Boxer das Ticket für Olympia gelöst.
„Eigentlich hatte ich schon aufgegeben“, offene Worte von Nelvie Tiafack am Tag, nachdem er den bisher wichtigsten Kampf seines Lebens gewonnen hat. Ort des Geschehens: das Olympia-Qualifikationsturnier des IOC im italienischen Busto Arsizio. Aus aller Welt sind Boxer und Boxerinnen hierhergekommen, um sich einen persönlichen Startplatz für die Spiele im Sommer zu sichern. Mehr als 600 Sportler streiten um 49 Tickets. Darunter auch elf deutsche Athletinnen und Athleten. Geschafft haben es zwei, die Sächsin Maxi Klötzer und der Bergheimer Nelvie Tiafack.
Vier Kämpfe muss der frühere Europameister in Italien bestreiten, alle vier gewinnen. Das gelingt. Im entscheidenden besiegt er den Serben Dusan Veletic klar nach Punkten. Eine Erlösung. „Mir sind noch im Ring, direkt nach der Urteilsverkündung die Tränen runtergekullert“, sagt das 1,89 Meter-Kraftpaket. Emotionen, die ganz schnell ganz verständlich werden, wenn man weiß, wie viele Widerstände Nelvie Tiafack überwinden musste, um dieses Ziel zu erreichen.
Verpasste Qualifikation für Tokio
Vor drei Jahren glaubte sich Deutschlands derzeit bester Super-Schwergewichtler Olympia schon einmal ganz nah. Auch da entschied ein internationales Qualifikations-Turnier über die Startplätze, weil das Internationale Olympische Komitee dem Box-Weltverband das Austragungsrecht entzogen hatte. Nur ein Sieg fehlte Tiafack noch, doch im entscheidenden Kampf kassierte er eine Niederlage. „Ich habe meinen Gegner damals zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Danach war ich völlig am Boden zerstört.“ Alles, wovon er als Boxer immer geträumt hatte, auf Jahre unerreichbar.
Neuer Anlauf, neue Motivation, neuer Olympia-Zyklus. Boxerisch ging es in den Jahren danach merklich voran. 2022 gewann Nelvie Tiafack den Europameistertitel. Körperlich immer austrainierter. Nicht nur pure Power, sondern inzwischen ein kompletter Boxer.
Massive Verletzungsprobleme
Sobald das Thema Olympia allerdings wieder in Reichweite zu rücken schien, häuften sich die Schwierigkeiten. Die erste Qualifikationschance im Sommer 2023 bei den Europaspielen in Krakau verpasste der Sportler vom SC Colonia 06 Köln; erneut denkbar knapp. Das Finale hätte Tiafack erreichen müssen, Tiafack scheiterte im Halbfinale.
Fast noch schlimmer aber: Sein athletischer Körper streikte. Knie, Schulter, Oberschenkel. Über Monate kein normales Training möglich. Die Nerven zu bewahren in der Wartungspause, wie er diese Zeit selbst nennt, ist für ihn unglaublich schwierig. Vor allem, weil die entzündete linke Schulter überhaupt nicht heilen will, die medizinischen Untersuchungen keine hilfreichen Ergebnisse liefern. „Selbst meinen ersten Kampf bei der Olympia-Qualifikation in Italien habe ich fast nur mit einem Arm gekämpft. Erst danach wurde es erträglicher.“
Im Januar stand sogar eine Absage des letzten Trainingslagers in Kienbaum im Raum, denn inzwischen machte auch noch die Halswirbelsäule massive Probleme. Passend dazu hatte sich sein langjähriger Trainer Lukas Wilascheck die Achillessehne gerissen, kann seitdem nur auf Krücken humpeln. Alles schien sich gegen Nelvie Tiafack und seinen großen sportlichen Traum verschworen zu haben.
Alle Nationalmannschaftskollegen scheitern
Doch trotz der Widrigkeiten gewinnt der 25-Jährige die nationale Ausscheidung, reist zum Qualifikations-Turnier nach Italien. Dort läuft es für den deutschen Boxsport-Verband sportlich ziemlich durchwachsen. Ein männlicher Teamkollege nach dem anderen scheitert, am Ende bleibt nur Nelvie Tiafack – derjenige, dessen Start so lange fraglich war. Seine gesundheitlichen Probleme nehmen inzwischen fast schon skurrile Ausmaße an. Im dritten Kampf, sein Gegner ist der Grieche Stylianos Roulias, gewinnt Nelvie Tiafack überlegen nach Punkten. Die Schulter hält, dafür reißt sich der Bergheimer die Sehne des rechten Daumens.
Zehn Wochen Boxpause schätzen die Ärzte, aber für das entscheidende Duell mit dem Serben Veletic ist er einsatzfähig. Und nach drei Runden ist es Nelvie Tiafacks Arm, der als Zeichen des Sieges in die Höhe gereckt wird. Ein Sieg des Willens, ein Sieg des Leidens. „Es ist mir unbegreiflich, dass ich das geschafft habe, ich habe das noch gar nicht realisiert.“
Ziel: Abräumen bei Olympia
Mit sechs Jahren kam Nelvie Tiafack mit seiner Mutter Josephine Forghab aus Kamerun nach Deutschland, mit ihr wohnt er noch heute unter einem Dach. Deswegen gehörte seiner Mutter auch der erste Anruf nach der gelungenen Qualifikation. „Jetzt hast du alles geschafft, wovon du immer gesprochen hast“, beglückwünscht sie ihn. Worte, die Nelvie Tiafack gewahr werden lassen, was ihm da gerade gelungen ist.
Doch Deutschlands bester Super-Schwergewichtsboxer wäre nicht er selbst, wenn er mit seinem Kopf nicht heute schon ein wenig im Sommer in Paris wäre. Wer so viele gesundheitliche Hindernisse aus dem Weg geräumt hat, den schreckt jetzt auch die nächste Zwangspause wegen der gerissenen Daumensehne offensichtlich nicht wirklich. „Ich fahre ganz sicher nicht nur nach Paris, um dort Fähnchen zu schwenken, ich fahr da hin, um abzuräumen.“