Missbrauchs-Betroffener Hempel Millionenklage gegen den Schwimmverband
Der ehemalige Wasserspringer Jan Hempel, der jahrelang sexuelle Übergriffe seines Trainers erlitten hat, verklagt den Deutschen Schwimm-Verband auf Schmerzensgeld und Schadensersatz.
Es ist ein Präzedenzfall mit unabsehbaren Folgen für den Deutschen Schwimm-Verband (DSV) - und möglicherweise für den gesamten deutschen Sport. Der ehemalige Wasserspringer Jan Hempel verklagt den DSV wegen der jahrelangen sexuellen Übergriffe seines Trainers auf Schmerzensgeld und Schadensersatz - "in siebenstelliger Höhe", wie sein Anwalt Thomas Summerer der Sportschau bestätigte.
Der 51 Jahre alte Hempel könnte damit unzähligen missbrauchten Athletinnen und Athleten in Deutschland den Weg ebnen, künftig vor Gericht um Entschädigung zu kämpfen. Beklagte wären nicht Täter - in Hempels Fall ist dieser seit langem verstorben -, sondern die jeweiligen Verbände. "Die Organisation Deutscher Schwimm-Verband hat völlig versagt in der Überwachung und in der Kontrolle seiner Trainer", sagte Summerer im Sportschau-Interview. "Es gab nur Vertuschung. Dieses Organisationsverschulden führt dazu, dass ein Verband haftet."
Hempel gibt 1.200 Übergriffe an
Hempel hatte in der ARD-Dokumentation "Missbraucht" im vergangenen Sommer angegeben, mehr als 14 Jahre lang von seinem damaligen Trainer Werner Langer missbraucht worden zu sein. Der ehemalige Wasserspringer, einst einer der besten der Welt, will sich derzeit nicht äußern. Summerer bezeichnet den Leidensweg seines Mandanten in den 1980er und 1990er Jahren als den "krassesten Missbrauchsfall, den der deutsche Sport je erlebt hat".
In der Klage, die entweder am Landgericht Kassel (Sitz des DSV) oder Dresden (zuständig für Hempels Heimatort Meißen) eingereicht werden soll, wird eine erschütternde Zahl stehen: 1.200 - so viele sexuelle Übergriffe lastet Hempel seinem Trainer Langer an. Die Forderung nach Entschädigung und Schmerzensgeld in siebenstelliger Höhe dürfe in diesem Fall niemanden verwundern, sagt Summerer. Er betont: "Wir ziehen das durch, und wenn es zehn Jahre dauert."
DSV schließt finanzielle Ausgleichszahlungen an Einzelpersonen aus
Der DSV reagierte am Sonntag umgehend, ohne in seiner Pressemitteilung ein einziges Mal den Namen Hempel zu erwähnen. Der Verband schloss finanzielle Ausgleichszahlungen an geschädigte Einzelpersonen grundsätzlich aus. Sie seien "aus aktueller Rechtslage nicht möglich“. Gemeinnützige Sportverbände dürften Mittel nur ausgeben "für Dinge, die ihrem satzungsgemäßen Zweck entsprechen, also der Gemeinheit zugutekommen“.
"Das betrifft den gesamten Sport“, wurde DSV-Vizepräsident Wolfgang Rupieper zitiert. Man sei mit Institutionen wie dem Bundesinnenministerium, dem Deutschen Olympischen Sportbund und Athleten Deutschland im Austausch darüber, "wie die Möglichkeit eines angemessenen materiellen Ausgleichs aussehen könnte“. Als Beispiel nannte er Stiftungen oder Fonds. "Wir sind da auf einem guten Weg. Denn grundsätzlich ist klar, dass eine Wiedergutmachung erfolgen muss“, sagte Rupieper.
"Auf einem guten Weg“ – auf die Kommunikation des DSV mit Hempel und Summerer passt diese Umschreibung dagegen ganz und gar nicht. Die Verhandlungen über eine außergerichtliche Einigung hat Summerer abgebrochen. Er sei, so sagt er, "auf ein Schweigekartell gestoßen“. Das Argument des DSV, aus rechtlichen Gründen keine Ausgleichszahlungen an Einzelpersonen leisten zu können, hält Summerer für vorgeschoben. "Wenn der DSV zu einer Zahlung verurteilt wird, wird er sich auf gar keinen Fall auf die Gemeinnützigkeit berufen können“, sagte er am Sonntag.
Parallelen zur katholischen Kirche
Der Münchner Sportrechtler kämpft bereits seit Jahren auch für Claudia Pechstein um Schadensersatz, ebenfalls gegen einen Dachverband, die Internationale Eislauf-Union (ISU). Die fünfmalige Eisschnelllauf-Olympiasiegerin klagt allerdings nicht wegen sexualisierter Gewalt, sondern im Zusammenhang mit ihrer angeblich ungerechtfertigten Dopingsperre.
Summerer sieht bei Hempel Parallelen zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche. Deutsche Diözesen und Bistümer müssen sich momentan erstmals mit Klagen wegen Organisationsverschulden auseinandersetzen. Abgeschlossen ist noch keine davon.
Fall in Aachen öffentlich gemacht
Der DSV hatte erst vor wenigen Tagen bekannt gegeben, dass eine unabhängige Aufarbeitungskommission zu den in der ARD-Doku aufgedeckten sowie weiteren Missbrauchsfällen Anfang März ihre Arbeit aufgenommen habe. Zu diesem Anlass hatte Vizepräsident Wolfgang Rupieper, ein pensionierter Richter, die Delegierten während der Mitgliederversammlung in Kassel auch auf mögliche Schadensersatzforderungen durch Opfer hingewiesen. Den Namen Hempel nannte er dort aber nicht.
Ein weiterer Fall, der durch die Kommission untersucht werden könnte, ist der des ehemaligen Aachener Wasserspringers Franz Marbaise. Auch in dieser Causa sind bekannte Muster erkennbar: Betroffenen wird nicht geglaubt, mutmaßliche Täter bleiben unbehelligt, Taten werden vertuscht.
"Trainer als Opfer meiner Willkür"
Marbaise machte in der Sportschau den Vorwurf eines sexuellen Übergriffs durch einen Trainer im Umfeld des Aachener Traditionsvereins SV Neptun erstmals öffentlich, Ende der sechziger Jahre sei dieser erfolgt. Jan Hempel, sagt Marbaise, habe ihn durch seinen mutigen Schritt dazu bewegt. Er selbst habe damals vergeblich Mut aufgebracht. Als es zu einer Aussprache mit dem Beschuldigten, einem Vereinsverantwortlichen und seinen Eltern gekommen sei, habe man ihm nicht geglaubt. "Ich hatte das Gefühl, da sitzt der Trainer als Opfer meiner Willkür vor uns", sagte Marbaise.
Pikant ist, dass der von Marbaise Beschuldigte eine enge Bezugsperson der verstorbenen Bundestrainerin Ursula "Ulla" Klinger war. Die DSV-Trainerin gehörte zu den Funktionären, die dafür verantwortlich waren, dass der Missbrauch an Jan Hempel nicht aufgearbeitet wurde. Das Schwimmbad in Aachen trägt bis heute den Namen "Ulla-Klinger-Halle".
Aufarbeitungskommission übernimmt Fall Marbaise
Gisela Kiefer, Schwester von Klinger und Vorsitzende der Abteilung Wasserspringen, versuchte in den vergangenen Monaten, Marbaises Missbrauchsfall aufzuarbeiten. Mit zwei weiteren möglichen Betroffenen habe sie gesprochen, mit dem Beschuldigten selbst dagegen nicht. Nach ARD-Informationen ist er, inzwischen hochbetagt, nicht befragungsfähig.
Der DSV teilte am Sonntag mit, der Fall Marbaise sei ihm seit August 2022 bekannt. "Die Betroffenen wurden sowohl durch den Verband als auch den Landesverband sofort kontaktiert und bekamen Hilfe angeboten", hieß es. Der Fall wurde der Aufarbeitungskommission übertragen.