Mentale Gesundheit im Leistungssport Oliver Bierhoff über Druck im Profifußball: "Viele verstecken, wie es ihnen geht"
Auf Spitzensportlern lastet ein hoher Leistungsdruck. Die einen stecken das gut weg, andere leiden, manche werden psychisch krank. Auf dem Business-Kongress der TSG Hoffenheim gab es spannende Einblicke.
"Ja, der Per". Oliver Bierhoff muss schmunzeln, als er über Per Mertesacker, Fußball-Weltmeister von 2014, spricht. "Bei Per kam es vor, dass er in der Kabine saß und vier Minuten stur auf seinen Schuh schaute." Mertesacker sei jemand gewesen, der vor den Spielen immer im Tunnel war. Mehr noch. Der hünenhafte Nationalmannschafts-Verteidiger stand während seiner ganzen Zeit als Fußballprofi unter einem immensen Druck. Versagensängste quälten ihn. Sein Körper reagierte auf Stress und Anspannung mit Brechreiz, Schlaflosigkeit und Symptomen völliger Erschöpfung.
Fußball-Weltmeister Per Mertesacker litt während seiner Karriere unter starkem Leistungsdruck
Fast jeder, der öffentlich performen muss, kennt die Angst, zu versagen oder sich zu blamieren. Diese Sorge macht auch vor hochbezahlten Fußballprofis nicht Halt. Per Mertesacker ist kein Einzelfall. Auch Timo Baumgartl, Robin Gosens, Nils Petersen, Martin Hinteregger, Ottmar Hitzfeld oder Michael Sternkopf wissen um mentale Durststrecken. Beim ersten Business-Kongress der TSG Hoffenheim mit dem Thema "Performance under pressure" (Leistung erbringen unter Druck) kam dies deutlich zur Sprache.
Bierhoff: "Man kann nicht in die Köpfe hineinschauen"
Oliver Bierhoff, von 2004 bis 2022 Manager und Geschäftsführer der deutschen Nationalmannschaft und Talkgast in Sinsheim, erfuhr erst 2018 durch ein Mertesacker-Interview von dessen Leiden. Er sei erschrocken. "Per war Kapitän beim FC Arsenal. Ich hätte nie erwartet, dass er sich das alles so zu Herzen nimmt." Er habe ein enges Verhältnis zu vielen Spielern gehabt, aber man könne nicht in ihre Köpfe hineinschauen. Es gebe robustere Naturen und sensiblere Gemüter. Jeder Spieler gehe auf seine eigene Art mit Druck um.
Oliver Bierhoff beim TSG-Kongress (im Talk mit Moderator Michael Steinbrecher)
Nach dem Abpfiff des WM-Finales 2014 in Brasilien (1:0-Sieg gegen Argentinien) sei Mesut Özil zu ihm gekommen und habe gesagt: "Jetzt können sie uns nicht mehr nachsagen, dass wir nichts gewinnen könnten." Da habe er gemerkt, welcher Druck von den Spielern abgefallen sei. Bierhoff betont, er habe keinen Spieler erlebt, der ihm gesagt habe: "Oliver, ich schaffe es nicht." Nachdenklich schiebt der Europameister von 1996 hinterher: "Ich denke, viele verstecken, wie es ihnen geht.“
Die Erwartungshaltung im Leistungssport ist enorm
Bierhoff selbst empfand Leistungsdruck nie als außergewöhnlich belastend. Der Beruf des Fußballprofis, sagt er, sei eine freie Wahl.
Es muss jeder für sich entscheiden, ob er das durchhält. Es ist Hochleistungssport. Wenn jemand merkt, dass er das nicht aushalten kann, sollte er vielleicht einen anderen Weg gehen. Oliver Bierhoff, ehem. DFB-Manager
Der Druck im System Leistungssport ist enorm. Spitzenathletinnen und -athleten gehen täglich bis an ihre körperliche Leistungsgrenze, sie kämpfen mit Verletzungen, führen ein Leben in der Öffentlichkeit, müssen sich gesund ernähren, ihr Gewicht halten und ausreichend schlafen. Sie sind in einem leistungsorientierten Milieu aufgewachsen und haben eine besondere Stellung in Familie und Freundeskreis. Die Erwartungshaltung ist enorm - von innen und außen.
Auch Leistungssportler leiden unter psychischen Erkrankungen
Eine groß angelegte Befragung von 1003 Schweizer Sportlerinnen und Sportlern im Jahr 2022 zeigte, dass Leistungssportler ebenso häufig an psychischen Beschwerden leiden wie die Allgemeinbevölkerung. 22 Prozent der Befragten berichteten, Symptome von Essstörungen zu erleben. Bei 18 Prozent treten Schlafprobleme auf. Symptome, die auf Depressionen hindeuten, werden von 17 Prozent erfahren, 10 Prozent litten unter Angstsymptomen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie über die mentale Gesundheit bei den Fußballerinnen und Fußballern der TSG Hoffenheim kam zu verfeinerten Ergebnissen: Die Werte an depressiven Symptomen stiegen im Laufe einer Saison kontinuierlich an, bei den Angstsymptomen kam es zu einem Höhepunkt im Winter.
Oliver Roggisch, Handball-Weltmeister 2007 und sportlicher Leiter von Handball-Bundesligist Rhein-Neckar Löwen, erzählt im SWR-Interview von ehemaligen Nationalmannschafts-Kollegen, die unter dem großen Druck litten: "Die fühlten sich nicht wohl, die brauchten Unterstützung. Damals hatten wir allerdings nicht dieses psychologische Wissen von heute. Da hat man vielleicht mal mit dem Trainer oder zuhause darüber gesprochen. Letztlich haben wir es mit uns selbst ausgemacht."
Genau das soll heute nicht mehr passieren. Deshalb haben die Rhein-Neckar Löwen vor drei Jahren eine Sportpsychologin eingestellt. Katharina Söhnlein, die auch mit den Fußballern der TSG Hoffenheim arbeitet, betreut die Handballer.
Sie hat bei uns ein großes Standing. Eine Frau im Männersport zu haben hilft manchmal. Ich denke, Spieler öffnen sich leichter bei einer Frau. Oliver Roggisch über Katharina Söhnlein, Sportpsychologin bei den Rhein-Neckar Löwen
Bei der TSG Hoffenheim genießt die Sportpsychologie schon seit vielen Jahren einen hohen Stellenwert. 2006 holte der damalige Cheftrainer Ralf Rangnick den Sportpsychologen Hans-Dieter Hermann ins Boot, seit 2021 sitzt mit dem Diplom-Psychologen Jan Mayer ein Experte in der Geschäftsführung. Im Hoffenheimer Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) sind aktuell drei Sportpsychologen tätig.
Bei den Profis stellt Mayer fest, dass immer mehr Spieler um sich herum ein eigenes Betreuungssystem aufbauen. Dazu gehört neben dem Berater, dem Physiotherapeuten und dem Athletiktrainer oft ein Psychologe. Dieser bleibe dann auch bei einem möglichen Vereinswechsel ein wichtiger Ansprechpartner für den Sportler, sagt Mayer dem SWR. Die heutige Spielergeneration sei wesentlich offener für das Thema mentale Gesundheit.
Früher war es eine Schwäche, wenn man zum Psychologen ging. Heute ist es unprofessionell, wenn man diesen Bereich nicht bedient. Jan Mayer, Psychologe und Geschäftsführer TSG Hoffenheim
Schließlich könnten in diesem Bereich noch einige Prozent an Leistungsfähigkeit schlummern. Der Psychologe wünscht sich, dass immer mehr Sportlerinnen und Sportler lernen, eigeninitiativ mit mentalen Problemen umzugehen. "Ich sollte als Profi einige Strategien parat haben, damit ich mit kleinen Krisen umgehen kann. Es gibt Techniken, die man lernen kann."
Sollte es trotzdem zu psychischen Erkrankungen kommen, bedarf es professioneller Unterstützung. Das Problem: Die Wartelisten der Psychologen oder Fachkliniken sind häufig extrem lang. "Hier wollen wir Netzwerke aufbauen, wo diese Wartezeit deutlich verkürzt werden kann“, sagt Mayer.
Florian Mennigen kennt alle Höhen und Tiefen im Leben eines Leistungssportlers. Als Mitglied im Deutschlandachter scheiterte der Ruderer bei den Olympischen Spielen 2008 kläglich. Das deutsche Vorzeigeboot wurde im B-Lauf Letzter. Vier Jahre später folgte der große Triumph mit Olympia-Gold in London. Mennigen studierte neben seiner Sportlerkarriere Psychologie. Heute betreibt der 42-Jährige eine psychotherapeutische Praxis in Mosbach (Neckar-Odenwald-Kreis).
Bei ihm suchen viele Sportlerinnen und Sportler Hilfe. Die gemeinsame Basis als Leistungssportler hilft dabei. "Dadurch entsteht schnell Vertrauen. Dieses Vertrauen ist enorm wichtig, damit die Therapie wirksam werden kann und Menschen offen sind, sich zu verändern." Die Athletinnen und Athleten kommen mit Angststörungen, Depressionen, posttraumatischen Syndromen oder Essstörungen zu ihm.
Auch wenn Mennigen eine größere Offenheit gegenüber dem Thema psychische Gesundheit wahrnimmt, sieht er noch reichlich Luft nach oben. Es sei noch ein Weg zu gehen, was die Akzeptanz in der Gesellschaft angehe, sagt er.
Etwa jeder Dritte in Deutschland erkrankt im Laufe seines Lebens an einer psychischen Erkrankung. Das sind sehr viele Menschen. Florian Mennigen, Psychotherapeut und ehem. Olympiasieger Rudern
Eine Offenheit für mentale Gesundheit sei elementar, sagt der ehemalige Spitzenruderer, um auch als Gesellschaft besser zu funktionieren.