Franz Beckenbauer (l.) und Bernd Bransch schütteln sich vor dem Anpfiff der WM-Partie BR Deutschland - DDR die Hände.

Vor 50 Jahren Als die DDR die Bundesrepublik bei der WM 1974 besiegte

Stand: 22.06.2024 21:51 Uhr

Am 22. Juni 1974 kam es im Hamburger Volksparkstadion in der WM-Vorrunde zum Duell zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Abseits des Rasens war es auch ein Kampf der Systeme in einer damals zweigeteilten Welt, bei dem der Underdog die späteren Weltmeister um Franz Beckenbauer sensationell mit 1:0 besiegte.

Von Johannes Freytag

Wohl kaum ein anderes Länderspiel hatte mehr politische Brisanz, wohl um keine andere Begegnung ranken sich mehr Geschichten und Anekdoten. Das beginnt mit dem einzigen Torschützen an jenem Abend: "Wenn man auf meinem Grabstein eines Tages nur 'Hamburg '74' schreibt, weiß jeder, wer da drunterliegt" - sagt Jürgen Sparwasser. Der Magdeburger Stürmer hatte in der 78. Minute das siegbringende Tor für die DDR-Auswahl erzielt.

Und war dabei mit Fortuna im Bunde. Denn er hatte sich beim Pass von Erich Hamann verschätzt. "Es war bescheuert, in diese Position zu laufen. Der Ball springt auf, ich wollte ihn mit der Brust nehmen, da habe ich ihn auf meine kleine Stupsnase bekommen, da hat sich der Laufweg verändert, die drei, die mich verfolgt haben, haben gestoppt, da war ich vorbei", schilderte er 50 Jahre später. Über Torwart Sepp Maier hinweg traf Sparwasser zum 1:0 - und schrieb damit Fußballgeschichte.

DDR - BR Deutschland 1:0 (0:0) im Stenogramm

DDR: Croy - Kische, Weise, Bransch, Wätzlich - Lauck, Irmscher (68. Hamann), Kreische, Kurbjuweit - Hoffmann, Sparwasser
BRD: Maier - Vogts, Schwarzenbeck (68. Höttges), Beckenbauer, Breitner - Cullmann - Overath (68. Netzer), Hoeneß - Grabowski, Flohe - Müller
Tore: 1:0 Sparwasser (78.)
Zuschauer: 62.000 (ausverkauft)

Zum Glücksfall wurde der Treffer für den damals 26-Jährigen allerdings nicht - im Gegenteil: "Das Tor hat mir letzten Endes geschadet in der DDR. Es kamen Spekulationen auf: 'Der hat einen Haufen Geld dafür gekriegt, ein Haus und kann sich dreimal im Jahr ein Auto dafür holen', was ja nicht stimmte. Ich habe genauso viel an WM-Prämie bekommen wie die anderen Spieler auch: 5.000 DM Ost und 2.000 DM West."

Ohnehin hadert Sparwasser damit, immer auf dieses 1:0 in Hamburg reduziert zu werden: "Es hört sich ja mittlerweile so an, als sei der Sparwasser einmal in 15 Jahren angeschossen worden und hätte nur ein Tor erzielt. Aber es gab viel wichtigere Tore für mich." Ohne Frage zählt dieser Treffer aber zu den berühmtesten der deutschen Länderspielgeschichte.

Politische Brisanz auch wegen Chile und West-Berlin

Schon die WM-Gruppenauslosung in Frankfurt (Main) im Januar 1974 hatte für viel politischen Wirbel gesorgt. Nicht nur wegen der Partie DDR - BR Deutschland: Auch der Gruppengegner Chile, gegen den zudem noch im West-Berliner Olympiastadion gespielt werden sollte, verschärfte die Situation bei den DDR-Funktionären.

Chile hatte sich nur qualifiziert, weil Gegner Sowjetunion im Entscheidungs-Rückspiel in Santiago nicht angetreten war - aus Protest, weil die chilenische Militärjunta das dortige Nationalstadion als Foltergefängnis genutzt hatte. Sollte die DDR nun aus Solidarität auf ihre erstmalige WM-Teilnahme verzichten? Da aber die qualifizierten "sozialistischen Bruderstaaten" Polen, Bulgarien und Jugoslawien keinen Boykott planten, zog auch die DDR nicht zurück.

Kalter Krieg stand in voller Blüte

So stand den "90 Minuten Klassenkampf" (so der Titel des Buches von Thomas Blees) nichts mehr im Wege. Klassenkampf deshalb, weil der Kalte Krieg zwischen Ost und West tobte. Die DDR feierte mit viel Militärprotz ihr 25-jähriges Bestehen, in der Bundesrepublik trat Kanzler Willy Brandt (SPD) zurück: Sein persönlicher Referent Günter Guillaume war als Agent für die Staatssicherheit der DDR enttarnt worden.

So kam Brandt-Nachfolger Helmut Schmidt nur sechs Wochen nach der Amtsübernahme in seiner Heimatstadt Hamburg in den Genuss, im Volksparkstadion das brisante WM-Spiel zu verfolgen. Der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker war nicht dabei. "Er durfte ja nicht reisen, weil er West-Verwandtschaft in Saarbrücken hatte", witzelte Torschütze Sparwasser im Mai 2024 bei einem Ehemaligen-Treffen der 1974er-Helden auf dem Darß.

Bundesrepubik siegessicher, DDR ohne Druck

Ein halbes Jahrhundert zuvor hatten die DDR-Auswahlspieler auf dem Weg zu ihrer dritten und letzten WM-Vorrundenpartie erfahren, dass sie bereits für die Zwischenrunde qualifiziert waren. Konkurrent Chile hatte gegen Australien am Nachmittag nur 0:0 gespielt. "Wir haben im Bus gejubelt und gesungen. So wurde das Spiel gegen die Bundesrepublik von uns viel lockerer genommen", erinnerte sich DDR-Verteidiger Gerd Kische später im NDR Fernsehen.

Es ging nicht mehr ums Weiterkommen, sondern lediglich um den Gruppensieg. Die Bundesrepublik stand bei 4:0 Punkten, die DDR hatte 3:1 Zähler. Am Ausgang der Begegnung gab es - zumindest im Westen - keinen Zweifel. Was wiederum die Spieler des vermeintlichen Underdogs reizte.

Torszene im WM-Spiel zwischen der DDR und der Bundesrepublik 1974: Jürgen Sparwasser (l.) erzielt das 1:0 für die DDR.

Die entscheidende Szene des Spiels: Jürgen Sparwasser (l.) hat Horst-Dieter Höttges (2.v.l.) aussteigen lassen, Berti Vogts (2.v.r.) und Sepp Maier sind machtlos.

"Das war für uns ein sportlicher Wettkampf, in dem man sich an sehr guten Einzelspielern und einer sehr guten Mannschaft messen konnte, die letzten Endes Weltmeister geworden ist. Das war die Chance für jeden Einzelnen von uns, sich vor den Augen der Weltzuschauer zu profilieren", sagte DDR-Torhüter Jürgen Croy zur Rollenverteilung im Spiel gegen den Europameister von 1972 mit seinen internationalen Superstars Franz Beckenbauer, Gerd Müller oder Wolfgang Overath.

Auch Kische gab sich kämpferisch: "Die hochstilisierten Westprofis trafen auf die grauen Mäuse aus dem Osten - so wurde es ja dargestellt. Das wollten wir natürlich nicht so stehenlassen."

"Total verkorkstes Spiel" für den DFB

Die Partie nahm aus westdeutscher Sicht nicht den erhofften Verlauf, Einwechselspieler Günter Netzer versteckte sich beim Warmmachen sogar auf der entfernten Spielfeldseite: "Ich wollte nicht in dieses total verkorkste Spiel hineinkommen."

"Wir haben gesagt, DDR, Chile, Australien, da kommen wir mit einem Auge weiter, selbst wenn wir uns ein Bein auf den Rücken binden. Es ist nicht notwendig, dass wir am Anfang der WM unsere Topleistung bringen. Und so waren wir zum Zeitpunkt des DDR-Spiels meilenweit von unserer besten Leistung entfernt."
— Paul Breitner

Bundestrainer Helmut Schön hatte mit seinen personellen Entscheidungen kein glückliches Händchen - im Gegensatz zu seinem Gegenüber Georg Buschner: Der wechselte in der 68. Minute in Hamann den entscheidenden Passgeber ein. Während Schön in derselben Minute neben Netzer (für Overath) auch Horst-Dieter Höttges (für Georg Schwarzenbeck) brachte. Jenen Höttges, der zehn Minuten später Sparwasser nicht am Torschuss hindern konnte.

Beckenbauer "schockiert"

"Wunderschön. Wir haben ein Tor gemacht gegen die, die eigentlich unbesiegbar waren", frohlockte DDR-Spieler Kische hinterher. DFB-Kapitän Beckenbauer hingegen war entsetzt: "Wir waren schockiert über unsere Verfassung. Wir hatten drei Spiele gespielt und eines schlechter als das andere."

Kurioses Wissen rund ums Länderspiel DDR - BR Deutschland

* Jürgen Sparwassers Tor war sein elftes Länderspieltor - und sein viertes in der 78. Minute.
* Finanzminister Hans Apel (SPD) schenkte DDR-Spieler Hans-Jürgen Kreische fünf Flaschen Whisky - Kreische hatte mit ihm gewettet, dass die DFB-Elf Weltmeister würde.
* 13 Spieler der DDR und Trainer Georg Buschner schlugen 1972 eine DFB-Auswahl bei Olympia 3:2 und gewannen später Bronze; auf DFB-Seite war nur Uli Hoeneß dabei.
* Der Teambus der DDR kam am Hamburger Flughafen ohne "Hammer und Zirkel"-Symbol an der Vorderseite an. Die Delegation weigerte sich, einzusteigen - ein neutraler Ersatzbus wurde beschafft.
* Das Trikot von Jürgen Sparwasser sicherte sich Paul Breitner - seit 2003 ist es im Bonner "Haus der Geschichte" (zusammen mit dem Breitner-Trikot).
* Franz Beckenbauer brachte sein Trikot wie vorher auf dem Spielfeld versprochen nach der Dopingkontrolle in die DDR-Kabine und gab es Harald Irmscher.
* Bundestrainer Helmut Schön hatte 1949/1950 die Auswahl der Sowjetzone, sozusagen Vorläufer der DDR-Nationalmannschaft, betreut.
* Hans-Jürgen Kreisches Vater Hans war 1950 mit Schön und anderen Spielern vom Dresdner SC Friedrichstadt in den Westen gewechselt, 1954 aber in die DDR zurückgekehrt.
* Jenas Trainer Hans Meyer sollte zum Spiel nach Hamburg reisen, sagte aber ab: "Um 3 Uhr nachts aufstehen, dann Fähnchen schwingen und sich als Ost-Exot begaffen lassen und um 3 Uhr wieder zurück sein - da hatte ich plötzlich eine Magenverstimmung ..."
* Der Anfeuerungsruf "7-8-9-10-Klasse" entstammt dem DDR-Fernsehen: In der Sendung "Mach mit, mach's nach, mach's besser" traten Schulen gegeneinander an - die Sieger wurden entsprechend von "1-2-3-" bis "8-9-10-" immer lautend werdend gefeiert.
* Die DDR-WM-Hymne hieß "Fußball ist rund wie die Welt" von Frank Schöbel
* Die westdeutsche WM-Hymne hieß "Fußball ist unser Leben" von Jack White

Mutmaßungen, die DFB-Auswahl habe absichtlich verloren, um in der Zwischenrunde den nominell schwereren Gegnern Niederlande, Brasilien und Argentinien aus dem Weg zu gehen, widersprach Verteidiger Berti Vogts: "Das stimmt nicht, wir wollten für Helmut Schön gewinnen, der ja aus Dresden stammte. Wir wollten etwas zurückzahlen."

So ganz von der Hand zu weisen war eine taktische Niederlage allerdings nicht: Während die DDR in der Zwischenrunde lediglich einen Zähler holte und ausschied, kamen Beckenbauer & Co. mit drei Siegen gegen Jugoslawien, Schweden und Polen ins Endspiel. Halbfinalspiele gab es damals nicht.

"7-8-9-10-Klasse!"

1.500 "Schlachtenbummler aus Mitteldeutschland" (O-Ton Tagesschau) bejubelten den Sieg der DDR-Auswahl im Hamburger Volksparkstadion. Auf höchster politischer Ebene war entschieden worden, welche DDR-Bürger zu den Spielen in den Westen reisen durften. Lediglich Parteimitglieder wurden mit Tickets bedacht, sorgfältig ausgewählt nach einem genau festgelegten Schlüssel.

Vorkommnisse wie beim Länderspiel der DFB-Elf am 10. Oktober in Polen sollten vermieden werden, wo Banner wie "Chemnitz grüßt die deutsche Nationalelf und den Kaiser Franz" oder Sprechchöre wie "Deutschland zeig's den Polen - wir woll'n den Sieg uns holen" für eine unerwünschte "gesamtdeutsche Stimmung" gesorgt hatten.

"Die DDR-Touristen verwenden bei ihrer Unterstützung der Sportler den bekannten Zuruf der sportbegeisterten Bürger der DDR: '7-8-9-10-Klasse!', und spenden kräftig Beifall."
— Der vorgegebene Anfeuerungs-Ruf für die DDR-"Fans

Die DDR-Staatssicherheit hatte einen Maßnahmenkatalog namens "Aktion Leder" ausgearbeitet. "Auszuwählen sind solche Bürger, die als bewusste sozialistische Staatsbürger eine aktive Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben zeigen sowie ihre politische Zuverlässigkeit unter Beweis gestellt haben", hieß es darin. Zugleich seien die DDR-Fußballtouristen "bis zur Abreise zu den Spielen im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich unter Kontrolle zu halten. Hierzu sind geeignete und überprüfte IM einzusetzen. Postkontrolle ist einzuleiten", so der Aktenvermerk.

Neben der Auswahl und Überwachung der "Touristen-Delegation" wurde den Reisenden auch der Anfeuerungsruf vorgegeben, der sich bei den Olympischen Spielen 1972 (mit dem Gewinn der Bronzemedaille) bewährt hatte.

DFB-Elf: Lagerkoller in der "Festung Malente"

Bewährt hatte sich offenbar auch die "lange Leine" für die DDR-Spieler. Die waren im Sporthotel Quickborn bei Hamburg untergebracht und schwärmten von den Bedingungen. Während das DFB-Team im schleswig-holsteinischen Malente eingezäunt und polizeibewacht mit Ausgangssperre und Lagerkoller (Beckenbauer: "In Malente wird man wahnsinnig") haderte, gaben die ostdeutschen Spieler fleißig Autogramme und machten Ausflüge ins Umland und ins nahe Hamburg.

"Dank Buschner waren wir nicht so an der Kette, wie es vielleicht viele glauben. Der eine oder andere Funktionär, der mehr mit seinen eigenen Einkäufen zu tun hatte, als es dann einigermaßen lief, hat gar nicht mitbekommen, was wir uns 'rausgenommen hatten, was möglicherweise auch nicht gestattet war", erinnert sich Kische.

So berichtete Torwart Croy Jahre später vom Ausflug mit zwei, drei anderen Spielern auf die Reeperbahn: "Wir wollten einfach dieses sündige Viertel mal mit eigenen Augen sehen. Da haben wir die Sicherheitsleute bequatscht und die haben uns dann hingefahren. Wir waren aber brav und zahm, saßen in einer Eckkneipe und haben Zitronenlikör getrunken."

Bescheidene Schlagzeile im "Neuen Deutschland"

Die Berichterstattung in der DDR blieb nach dem Coup bescheiden: Aufmacher war der "Tag des Bauarbeiters" ("Dank an die Bauschaffenden für ihre großen Leistungen"), der WM-Erfolg fand auf der Titelseite unten rechts eher klein statt, mit der nüchternen Überschrift: "DDR ist Gruppensieger nach dem 1:0 gegen BRD". Im Westen titelte die "Bild"-Zeitung dagegen am Tag nach der Niederlage des DFB-Teams in fetten Lettern: "So nicht, Herr Schön!"

Mit dem "Geist von Malente" zum Titelgewinn

Tatsächlich löste die Niederlage gegen die DDR in der Mannschaft eine Art heilsamen Schock aus. Nach der Rückkehr ins schleswig-holsteinische Trainingslager flogen die Fetzen und Beckenbauer putzte nach eigener Aussage "jeden runter, der mir vor die Augen kam".

Noch am selben Abend raufte sich das Team mit dem "wilden Kaiser" an der Spitze zusammen und fand den viel zitierten "Geist von Malente", der ihm letztlich den Titel bescherte. Nach der schwierigen Gruppenrunde verlor die DFB-Auswahl kein Spiel mehr und schlug im Finale am 7. Juli 1974 die Niederlande mit 2:1.

Dieses Thema im Programm:
Schleswig-Holstein Magazin | 23.06.2024 | 19:30 Uhr