Datenanalyse zu Torhütern Atubolu, Urbig, Ernst und Co. - wer wird Deutschlands neuer Neuer?
Nach der Verletzung von Nationaltorwart Marc-André ter Stegen braucht das DFB-Team eine mittelfristige Vertretung. Und langfristig eine Antwort auf die Frage, wer für Deutschland im Tor stehen soll. Die könnte aktuell eher in der 2. Liga als in der Bundesliga liegen, wie die Daten zeigen.
Als sich ter Stegen Ende September im Estadio de la Ceramica des FC Villareal die Patellasehne im Knie riss und auf dem Rasen wand, schmerzte das zuallererst den Keeper des FC Barcelona selbst. Es tat aber auch seinem Coach Hansi Flick weh - und dessen Nachfolger als Bundestrainer, Julian Nagelsmann. Noch weit bis ins Jahr 2025 hinein wird ter Stegen beiden fehlen.
In Oliver Baumann (Hoffenheim), Alexander Nübel (Stuttgart) und Janis Blaswich (Salzburg) stehen für die Nationalmannschaft heute beim Nations-League-Spiel gegen Bosnien-Herzegowina (20.45 Uhr) und kurzfristig zwar solide Ersatzkandidaten bereit. Sie alle aber eint, dass sie mit 34, 28 und 33 Jahren schon im fortgeschrittenen Fußball-Alter sind; und anders als ter Stegen nicht über übermäßig viel internationale Erfahrung verfügen.
Hinter ter Stegen fehlt es an internationaler Erfahrung
Während es der Torhüter der "Blaugrana" alleine auf 85 Champions-League-Einsätze bringt, kommen Baumann, Nübel und Blaswich zusammengerechnet nicht einmal auf ein Drittel der Partien in der "Königsklasse".
Der Ter-Stegen-Ausfall zeigt einerseits, dass das Torhüter-Land Deutschland nach dem Abgang von Manuel Neuer und der Verletzung seines Nachfolgers derzeit ohne Keeper von Weltklasse-Format dasteht. Das könnte mit Blick auf die Titelmission des DFB-Teams zum Nachteil werden, sollte ter Stegens Ausfall länger dauern - oder er nicht in alter Stärke zurückkehren.
Torwartkoordinator Ziegler: "Wir haben die Talente"
Anderseits wirft ter Stegens Verletzung die Frage auf, ob Nagelsmann perspektivisch nicht lieber auf junge Torhüter bis 25 Jahre neben ihm setzen sollte, um sie strategisch aufzubauen und an das Niveau der Nationalmannschaft heranzuführen.
Der DFB hat erkannt, dass ihm auf der Position ganze Jahrgänge fehlen. Der frühere Bundesliga-Keeper Marc Ziegler wurde als Torwartkoordinator angestellt, der 48-Jährige kümmert sich seit 2017 um die Juniorenteams und die Ausbildung der Torwarttrainer.
Im Projekt "N28" sucht er eine Antwort auf die Frage, wer in vier Jahren das deutsche Tor hüten soll. "Wir haben die Talente", sagte Ziegler kürzlich, "vielleicht nicht mehr sechs Stück wie in den Topjahrgängen in der Vergangenheit, aber wir haben sie."
Viele junge deutsche Torhüter in der 2. Liga
Zu finden sind die allerdings weniger in Deutschlands höchster Spielklasse als vielmehr im Unterhaus. Noah Atubolu vom SC Freiburg ist in der Bundesliga der einzige deutsche Stammtorhüter unter 25.
Anders sieht das Bild in der 2. Liga aus. In Jonas Urbig (Köln), Tjark Ernst (Hertha BSC), Nahuel Noll (Fürth), Max Weiß (Karlsruhe), Julian Krahl (Kaiserslautern), Justin Heekeren (Schalke 04), Jan Reichert (Nürnberg), Nicolas Kristof (Elversberg), Johannes Schenk (Münster) und Felix Gebhardt (Regensburg) sind gleich zehn deutsche Zweitliga-Stammtorhüter jünger als 25. In 17 von 18 Vereinen hüten Deutsche das Tor.
Speziell Urbig (21) und Ernst (21), die beide hinter Atubolu in der U21 stehen, sowie Noll (21) und Weiß (20) spielen bislang eine gute Saison.
Atubolu schon auf sehr hohem Niveau
Ein Blick auf die Daten von Global Soccer Network (GSN) zeigt, dass in der jungen Torhüter-Garde eine Menge Potenzial steckt. Der Keeper mit dem derzeit größten Leistungsvermögen und auch dem besten Entwicklungspotenzial ist Atubolu. Er hat einen GSN-Index von 76,63 - das ist internationale Klasse. Bei optimaler Entwicklung sehen die GSN-Daten beim Freiburger sogar das Potenzial zu Weltklasse (88,84).
Was ist der GSN-Index?
Vier-Säulen-Prinzip:
- 1. "fußballerische Eigenschaften": Technik, Spielübersicht oder der erste Kontakt: Einschätzungen über 130 fußballspezifische Eigenschaften von mehr als 300 Scouts weltweit.
- 2. "fußballerisches Potenzial": Wo werden Spieler besser, wo stagnieren sie oder entwickeln sich zurück? Ein Algorithmus analysiert Daten aus der ersten Säule und vergleicht Spielertypen.
- 3. "Performance auf dem Spielfeld": Tore, Pässe, Fouls, Schüsse oder auch Abseitspositionen: die Spiel-Basisdaten und weiterführende Analysen wie "Expected goals" oder "Action scores" werden durch einen Algorithmus in einen übergeordneten Kontext gesetzt - zum Beispiel positionsbezogen.
- 4. "Spielniveau": Jede Mannschaft oder Liga hat einen Zahlenwert, der ihre Stärke bemisst. Oberliga oder Champions League: Umso höher das Spielniveau des Gegners, desto positiver wirkt es sich auf den GSN-Index aus.
Bewertungs-Skala:
- 85 - 100: Weltklasse
- 70 - 85: internationale Klasse
- 60 - 70: Durchschnitt Bundesliga bzw. der Top 5 Ligen
- 50 - 60: Durchschnitt 2. Bundesliga
- 40 - 50: Durchschnitt 3. Liga
- 30 - 40: Durchschnitt Regionalliga
Zwei GSN-Index-Werte:
- aktueller GSN-Index: zeigt die aktuelle, allumfassende Qualität eines Spielers basierend auf den Daten der vier Säulen und Algorithmus-Berechnungen.
- möglicher GSN-Index: Künstliche Intelligenz ermittelt anhand der Daten das bestmögliche, zukünftige Leistungsniveau eines Spielers.
Aktuelles Leistungsvermögen, Potenzial und nicht zuletzt seine Bundesliga-Erfahrung sowie der Status als Nummer 1 in der deutschen U21 machen den Freiburger derzeit zum Top-Kandidaten der Nachwuchskeeper auf einen Platz im DFB-Team.
Was zeichnet Atubolu aus? Er hat in fast allen klassischen Torwart-Skills Stärken: gute Strafraumbeherrschung, starke Reflexe, hohe körperliche Präsenz, Beweglichkeit, gut im Eins-gegen-Eins. Zulegen muss er noch in Sachen Tempo und der Ballverarbeitung mit dem Fuß.
Und er muss - was für alle anderen Keeper in dieser Liste auch gilt - konstant auf hohem Niveau spielen und sein Potenzial ausschöpfen. In der vergangenen Saison gelang ihm das laut GSN nicht: Er kassierte den Daten zufolge acht Treffer mehr als er rechnerisch hätte bekommen dürfen. In dieser Spielzeit leistete er sich einen kapitalen Fehler beim 0:3 gegen den FC St. Pauli.
Name | Aktueller GSN-Index | Möglicher GSN-Index |
---|---|---|
Noah Atubolu (SC Freiburg) | 76,63 | 88,84 |
Tjark Ernst (Hertha BSC) | 74,24 | 85,38 |
Jonas Urbig (1.FC Köln) | 74,05 | 85,44 |
Diant Ramaj (Ajax Amsterdam) | 72,72 | 82,00 |
Felix Gebhardt (Jahn Regensburg) | 72,28 | 84,89 |
Max Weiß (Karlsruher SC) | 65,36 | 84,21 |
Julian Krahl (FC Kaiserslautern) | 65,00 | 72,82 |
Nahuel Noll (Greuther Fürth) | 64,00 | 72,51 |
Jan Reichert (1.FC Nürnberg) | 56,52 | 64,04 |
In Urbig und Ernst gibt es neben Atubolu zwei weitere junge deutsche Keeper, die das Potenzial zur Weltklasse haben. Weiß und Gebhardt erhalten von GSN nur unwesentlich schlechtere Bewertungen.
Wie verläuft der Karriereweg der Nachwuchskeeper?
Doch ob sie ihr Leistungsvermögen auch ausschöpfen werden? Derzeit stehen alle bei Zweitligisten im Tor, die keine überragende Abwehr haben, um es wohlwollend auszudrücken. Stärkt das ihre Entwicklung, weil sie häufiger gefordert werden? Oder verunsichert die jungen Keeper der Dauerdruck? Und wie wirkt sich dies auf ihre weitere Karriere aus?
Klar ist: Wer in der Nationalmannschaft eine wichtige Rolle einnehmen will, muss bei einem Bundesligisten spielen, der möglichst auch im Europacup vertreten ist. Entscheidend dürfte also auch sein, wer wann die Chance bei einem deutschen Spitzenclub erhält.
Ramaj - über Ajax zum DFB-Team?
Oder jemand geht den Weg von Diant Ramaj, der ein weiterer Anwärter für die DFB-Auswahl werden könnte. Der 23-Jährige, der für Deutschland bereits in der U18 und U19 zum Einsatz kam, wechselte im Sommer 2023 von Eintracht Frankfurt zu Ajax Amsterdam.
Beim niederländischen Rekordmeister wähnte er sich nach 22 Liga-Einsätzen in der vergangenen Saison bereits als Nummer 1. In dieser Spielzeit kam er allerdings noch nicht zum Einsatz. Gleichwohl schätzt GSN sein Potenzial mit "internationale Klasse" ein.
Um tatsächlich eine Chance in der Nationalmannschaft zu erhalten, müsste sich Ramaj aber seinen Stammplatz zurückerkämpfen oder zu einem anderen Club als Nummer 1 wechseln.
Für die Frankfurter Eintracht bestritt Ramaj übrigens zwei Bundesliga-Partien. Vor seinem Debüt im Januar 2022 wurde er nach seinem Vorbild gefragt. Die Antwort: Marc-André ter Stegen.
Dieses Thema im Programm:
Sport aktuell | 11.10.2024 | 11:17 Uhr