Nach Flucht aus Ukraine Nach Flucht aus Ukraine: 17-Jähriger findet Judo-Ersatzfamilie in Wiesbaden
Zwei Jahre nach seiner Flucht aus der Ukraine ist Kyrylo Kravtsov Südwestdeutscher Meister. Beim Judo Club Wiesbaden hat der 17-Jährige eine neue Heimat gefunden - nicht nur sportlich.
Eine kleine Verbeugung, ein kurzer Handschlag. Dann fixiert Kyrylo Kravtsov seinen Trainingspartner beim Judo Club Wiesbaden, packt ihn am Judo-Anzug und wirft ihn auf den Boden. Bewegungen, wie der 17-Jährige sie im Sportinternat in Saporischschja jeden Tag trainiert hat – bis er die Ukraine im Frühjahr 2022 verlassen musste.
Kyrylo erinnert sich an den Tag, als der Krieg begann. Er erfuhr es von seiner Mutter: "Es war sechs Uhr morgens. Eigentlich wollte ich zum Frühtraining, dann hörte ich mein Telefon klingeln. Es war meine Mutter, die sagte, dass es begonnen hatte."
Das Training beim Judo Club Wiesbaden.
Mit einem alten Schulbus nach Wiesbaden
Kyrylo und rund 30 weitere Jugendliche aus dem Sportinternat verbrachten einige Tage in einem Keller. Dann ergriff einer der Trainer die Initiative – und fuhr mit den Jugendlichen in einem alten, gelben Schulbus nach Deutschland. "15 Tage hat die Reise gedauert", sagt Kyrylo.
Kyrylos Trainer hatte Kontakte zum Judo Club Wiesbaden. Er rief dort an und steuerte den Bus in die hessische Landeshauptstadt. Judo wurde für Kyrylo zur Brücke zwischen der Ukraine und Deutschland: "Ab meinem ersten Tag war ich Teil des Vereins."
Die rund 30 Jugendlichen aus Saporischschja gehören mittlerweile genauso zum Stamm des Judo Club Wiesbaden wie die beiden Trainer Kyryll Vertynskyi und Stanislav Bondarenko. Gemeinsam mit deutschen Coaches leiten sie die Trainingseinheiten.
Zusätzlich zum Sport stellte der JCW sofort ein Patenprogramm auf die Beine, Freiwillige unterstützen die Jugendlichen bei Behördengängen und Deutschkursen. Kyrylo wohnt in einer WG, die der Verein organisiert hat: "Es gibt viel Hilfsbereitschaft. Egal, an wen ich mich wende – ich bekomme Unterstützung. Ich fühle mich hier als Teil einer Familie."
Bruder kämpft in der Ukraine
Kyrylos Eltern sind noch in der Ukraine. Seine Mutter war ein Monat in Deutschland, konnte sich ein Leben hier aber nicht vorstellen. Kyrylo ist nach den vielen Jahren im Sportinternat sehr selbstständig. Trotzdem packt ihn manchmal das Heimweh: "Ich denke an mein Zuhause, ich denke an das Schwarze Meer, wo ich glücklich war. Ich konnte meine Großeltern besuchen."
Besonders oft denkt er an seinen Bruder, der bei der Armee ist: "Mir ist bewusst, dass es mir hier viel besser geht. Ich nehme mein Leben jetzt anders wahr, seitdem ich weiß, dass gute Freunde und Bekannte im Krieg gefallen sind."
"Sehe mein zukünftiges Leben in Deutschland"
Der talentierte Judoka will sein Leben in Deutschland selbst in die Hand nehmen. Momentan macht er den B2-Deutschkurs und ist auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz in Wiesbaden: "Ich möchte in der deutschen Gesellschaft Fuß fassen."
Im hessischen Sport hat Kyrylo schon große Fußstapfen hinterlassen. Anfang des Jahres wurde er U21-Hessenmeister in der Klasse bis 81 Kilogramm. Und vor wenigen Tagen sicherte er sich den Südwestdeutschen Titel: "Ob in der Ukraine oder in Deutschland – ich habe dasselbe Ziel: Goldmedaillen gewinnen."