Emotionales Ukraine-Training in Wiesbaden Ball am Fuß, Krieg im Kopf
Die ukrainische Nationalmannschaft wird in Wiesbaden von Tausenden geflüchteten Fans gefeiert und lautstark auf die EM eingestimmt. Das öffentliche Training zeigt: Der Fußball kann ein wenig helfen, doch der Schmerz über den Krieg ist allgegenwärtig.
Es herrschte fast ein wenig Volksfeststimmung am Donnerstagvormittag in Wiesbaden. An dem Ort, an dem vor wenigen Wochen der SV Wehen Wiesbaden tränenreich in die 3. Liga abgestiegen war, jubelten dieses Mal knapp 4.000 in blau-gelbe Trikots gekleidete oder blau-gelbe Fahnen gehüllte Fans ihren Lieblingen zu.
Für das meiste Gekreische der überwiegend eher jungen Anhänger sorgten zweifelsfrei Starspieler Mykhaylo Mudryk vom FC Chelsea und Oleksandr Zinchenko vom FC Arsenal. Aber auch der Rest des Teams wurde frenetisch gefeiert und immer wieder lautstark angefeuert. "Slava Ukraini!"
Ein Star zum Anfassen: Mykhaylo Mudryk.
Der Krieg ist auch in Wiesbaden allgegenwärtig
Der Grund für diesen positiven Ausnahmezustand in der hessischen Landeshauptstadt: Die ukrainische Nationalmannschaft, die ihr EM-Quartier im benachbarten Taunusstein (Rheingau-Taunus) aufgeschlagen hat, präsentierte sich einen Tag nach ihrer Ankunft in Frankfurt in einer öffentlichen Trainingseinheit und sorgte so für eine willkommene Abwechslung im Alltag vieler Geflüchteter.
Bemerkenswert dabei: Die Atmosphäre im Stadion war durchaus gelöst und ausgelassen. Dass die ukrainische Realität aber noch immer vom russischen Angriffskrieg geprägt und bestimmt wird, war am Donnerstag ebenfalls in fast jeder Sekunde spür- und vor allem sichtbar. In einer extra eingerichteten Zone saßen auf Einladung des Veranstalters zahlreiche verletzte Soldaten.
Spieler mit Grüßen an die Front
"Wir müssen weiter über den Krieg reden, wir müssen daran erinnern", sagte Trainer Serhij Rebrow nach dem lockeren Aufgalopp seines Teams in der prallgefüllten Mixed Zone. Das Interesse an der Ukraine ist rund um die Europameisterschaft in Deutschland riesig. Gleichzeitig wollen die Ukrainer die große Bühne nutzen, um weiter im Gedächtnis zu bleiben. "Es ist wichtig, dass wir uns hier zeigen", so Rebrow. "Ich weiß, dass jeder müde ist über die Nachrichten. Aber es ist noch nicht vorbei."
Wie untrennbar der Fußball und der Krieg in diesen Tagen miteinander verbunden sind, zeigten abseits des Trainings auch einige vom ukrainischen Verband aufgestellte Banner mit Spieler-Porträts und eindringlichen Botschaften. "Die Zukunft unseres Landes liegt in euren Händen. Ich bin stolz auf euch alle", wird dort etwa Offensivtalent Georgiy Sudakov zitiert. Neben Posterboy Mudrik steht in großen Lettern: "Ihr seid immer in unseren Gedanken. Ihr seid der Stolz und die Ehre der Ukraine." Der Adressat: natürlich die ukrainische Armee.
Fußball kann helfen, aber nicht heilen
Während sonst im Fußball von Verantwortlichen und Spielern immer wieder versucht wird, den Sport und die Politik bloß nicht zu vermischen, ist das bei der Ukraine gar nicht möglich. Der Mannschaftsbus wurde am Donnerstag von einer Polizeikolonne auf der Straße und einem Hubschrauber in der Luft begleitet, auch rund um das Trainingszentrum gelten strengste Sicherheitsvorkehrungen. Dass im Stadion an diesem Tag zwar viele fröhliche Gesichter, aber gleichzeitig auch viele traurige Menschen zu sehen waren, verdeutlicht die schwierige Lage. Die Spieler haben den Ball am Fuß, die Menschen haben den Krieg im Kopf.
Und da eben auch die Spieler Menschen sind, steht die Mannschaft vor einem komplizierten Spagat. Auf der einen Seite ist eine EM ein Highlight für jeden Fußballer und bedarf höchstmöglicher Fokussierung, auf der anderen Seite liegt zumindest ein Teil der Konzentration weiter auf den schlimmen Ereignissen in der Heimat.
Sicherheitsvorkehrungen in Wiesbaden.
Eine EM als Lichtblick
"Wir checken jeden Morgen die Nachrichten und sehen auf unseren Handys, was passiert. Ich telefoniere jeden Tag mit meinen Eltern, um zu wissen, dass alles okay ist", fasste Routinier Taras Stepanenko zusammen. Es sei wichtig, dass das Nationalteam an der EM teilnehme, betonte der 34-Jährige. "Gleichzeitig sterben aber weiter jeden Tag Menschen, werden jeden Tag Städte zerstört und fliegen jeden Tag russische Raketen. Das ist unser Alltag seit mehr als zwei Jahren."
Der Fußball, das betonten neben Nationaltrainer Rebrow auch weitere Spieler, soll den Menschen in der Ukraine zumindest für ein paar Stunden etwas Freude bringen. Leicht ist diese Aufgabe nicht. "Wir spielen für unser Volk, jeden Tag", sagte Mittelfeldspieler Ruslan Malinovskiyi. "Ich hoffe, dass sie genug Licht haben, um die Spiele zu sehen."