NLZ-Chef Alexander Richter

Eintrachts NLZ-Chef Alexander Richter im Interview Eintracht-NLZ-Chef Richter im Interview: "Es war wie auf dem Wikingerboot"

Stand: 16.10.2023 15:35 Uhr

Alexander Richter ist bei Eintracht Frankfurt angetreten, um den Nachwuchs auf Vordermann zu bringen. Im Interview erklärt der NLZ-Chef, was genau er verändert hat, warum die Spieler auch mal zum Geräteturnen gehen und was Leon Goretzka von anderen Talenten unterschied.

Seit 2022 ist Alexander Richter Chef des Nachwuchsleistungszentrums von Eintracht Frankfurt, kein einfacher Schritt für den gebürtigen Bochumer, der zuvor viele Jahre lang beim VfL Bochum in gleicher Position arbeitete.

hessenschau.de: Alexander Richter, bei der Eintracht gibt es die Anekdote, dass Charly Körbel 1999 die Scouting-Abteilung übernehmen sollte und lediglich zwei Kicker-Sonderhefte in einer Schublade vorfand. Was haben Sie vorgefunden, als Sie 2022 NLZ-Leiter wurden?

Alexander Richter: (Lacht.). Über 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Trainer, Scouts, Fahrdienst, Physiotherapeuten und, und, und. Also sehr viele Menschen, mit denen ich mich vertraut machen, mit denen ich sprechen musste. Das war und ist ein Prozess. Was ich vorgefunden habe waren unter anderem Fachbereiche, die nicht miteinander verbunden waren. Jugendteams, die gar nicht mal schlecht Fußball spielten, denen aber oftmals die Anbindung zu anderen Jahrgängen fehlte. Trainingsinhalte in den Jahrgängen, die nicht aufeinander aufbauten. Also viele Dinge, die wir besser machen können.

hessenschau.de: Klingt nach einer großen Herausforderung.

Richter: Es war wie auf einem großen Wikingerboot, auf dem viele Menschen sitzen und rudern. Aber nicht alle ruderten in eine Richtung. Mein Job war es zunächst, diesen riesigen Apparat in eine gemeinsame Richtung zu steuern. Auch wenn das sicherlich nicht zu den schönen Aufgaben in diesem Job gehört, gab es deshalb bekanntermaßen die ein oder andere Trennung. Aber jetzt sind wir auf einem guten Weg. Die Stimmung ist gut und ich spüre, dass dieses Team hier so langsam zusammenwächst. Aktuell formulieren wir gemeinsam ein Leitbild für uns, das ist ein Prozess, an dem alle beteiligt sind.

hessenschau.de: Wie verbessert man das Arbeitsklima in einem so großen Betrieb?

Richter: Erstmal muss ich Vorbild sein und mich so verhalten, wie ich es auch von den anderen erwarte, also offen und aufrichtig. Teamwork hat immer etwas damit zu tun, wie wir miteinander umgehen. Es muss Spaß machen, zur Arbeit zu kommen, man muss sich vertrauen, man muss sich auch streiten können, aber konstruktiv und ohne nachtragend zu sein. Da versuche ich, voranzugehen. Ich habe viele, viele Gespräche geführt, auch privater Natur beim Kaffee, einfach um meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennenzulernen. Natürlich muss aber ebenso immer eine gewisse professionelle Distanz da sein.

hessenschau.de: Was waren die sportlichen Aspekte, die sie verändert haben?

Richter: Ich habe zunächst versucht, den Blickwinkel im gesamten NLZ zu verändern. Und zwar so, dass wir den einzelnen Spieler ins Zentrum stellen, um individuell zu gucken: Was braucht dieser Spieler eigentlich von uns? Braucht er mehr Eigenverantwortung? Oder mehr Anleitung? Mehr Athletiktraining? Muss seine Technik gefördert werden? Nur so können wir die Spieler gut ausbilden, und nicht, indem alle dasselbe machen. Dafür muss aber auch das reine Ergebnisdenken raus aus den Köpfen.

hessenschau.de: Inwiefern?

Richter: Es ist nicht unser Primärziel, Spiele zu gewinnen, sondern Spieler auszubilden. Niemand verliert gerne ein Spiel, ich auch nicht. Die Spieler sollen Woche für Woche ihre Spiele gewinnen wollen. Aber wenn ich am Wochenende sehe, dass die Spieler die Inhalte der Trainingswoche umsetzen, ist das wichtiger als die drei Punkte. Das muss man mit den Trainern diskutieren und ihnen vermitteln. Die dürfen nicht denken: Ich muss am Samstag gewinnen, sonst schmeißt mich der Richter raus. Es geht um die Weiterentwicklung der Spieler. Es gibt so viele Talente in Deutschland, wenn wir die individuell fördern, dann sind wir irgendwann nicht mehr aufzuhalten.

hessenschau.de: Wie wird denn festgelegt, welcher Spieler wie gefördert wird?

Richter: Gefördert werden erstmal alle. Wir haben aber auch ein offenes Top-Spieler-Prinzip: Einmal in der Woche gibt es einen Jour Fixe, da teilt der Trainer gemeinsam mit allen anderen Verantwortlichen seine Einschätzung, wie der einzelne Spieler sich entwickelt. Hinzu kommen Daten, zum Beispiel aus der Videoanalyse und dem GPS-Tracking, mit dem wir jedes Training verfolgen. Für diese Einschätzung haben wir ein Ampelsystem eingeführt: Grün, Gelb, Rot. So entsteht ein Stärken- und Schwächenprofil, aus dem heraus wir eine schriftliche Zielvereinbarung mit dem Spieler entwickeln. Darin steht, woran wir in den verschiedenen Bereichen mit dem Spieler arbeiten wollen, technisch, taktisch, mental, darauf wird das Individualtraining dann zugeschnitten. Und dreimal im Jahr haben wir ein Feedbackgespräch mit dem Spieler und seinen Eltern, um Transparenz zu schaffen, wo der Spieler steht. Es gibt dazu noch den Bereich Schule, da werden mit den Eltern zusammen Ziele festgelegt.

hessenschau.de: Was haben Sie noch angestoßen?

Richter: Wir haben eingeführt, dass die Trainingsinhalte von Jahrgang zu Jahrgang aufeinander aufbauen, sind da aber immer noch im Arbeitsprozess. Ein fußballspezifisches Techniktraining hat in unserem NLZ höchste Bedeutung. Technik, der Umgang mit dem Ball, kann auf unterschiedlichste Weisen trainiert werden. Isoliert ohne Gegenspieler, im 1:1, in kleinen Gruppen, in Übungsformen oder auch in Spielformen als Schwerpunkt. Auch ein positionsspezifisches Techniktraining haben wir installiert bei den älteren Jahrgängen. Und diese Inhalte, in dem Fall bezogen auf Technik, müssen wir an das Alter des Spielers und den Könnensstand des Spielers immer wieder neu anpassen. Das ist die Herausforderung in allen Altersbereichen. Ab der U15 fangen wir dann an, positionsspezifisches Techniktraining zu machen. Was braucht zum Beispiel ein Elias Baum als Rechtsverteidiger? Einen sauberen Abwehrkopfball? Oder doch eher den sauberen Pass ins Zentrum und den direkten Ball die Linie runter? Es ist wie in der Schule, wo die Inhalte von der achten Klasse auf denen der siebten aufbauen. Andersherum geht es nicht.

hessenschau.de: Bald treten die DFB-Reformen in Kraft, die die Talentförderung in Deutschland neu strukturieren sollen. Etwa durch andere Spielformen im Kinderfußball. Wie stehen Sie dazu?

Richter: Ich finde die Reformen genau richtig. Wir haben bei der Eintracht im Kinderfußball bereits eigene Maßnahmen ergriffen, die ähnlich sind. Eines unserer Ziele ist zum Beispiel, dass wir von der U9 bis zur U11 im besten Fall keine Fluktuation mehr haben wollen. Wir möchten die Spieler, die wir dahaben, nicht mehr aussortieren müssen, das ist für die Kinder das Schlimmste. Also bleiben die, die wir haben, drei Jahre bei uns, wenn sie möchten. So weit sind wir leider noch nicht ganz, aber auf einem guten Weg in diese Richtung.

hessenschau.de: Welche Maßnahmen gibt es noch?

Richter: Wir haben vermehrt kleine Spielformen in den jüngeren Mannschaften eingeführt, damit die Kinder mehr Ballkontakte haben. Spiele im Käfig, Spiele Drei gegen Drei auf vier Tore, die Jungs sollen Spaß haben, Chancen kreieren und Tore schießen. Und so werden dann auch spielerisch Koordination und Technik gefördert. Und sogar Taktik für später. Wenn die Kids zwei Tore verteidigen müssen, lernen sie zu verschieben, ohne dass es bewusst trainiert wird. Außerdem verfolgen wir einen polysportiven Ansatz. Es ist wichtig, dass die Kinder mit anderen Sportarten in Kontakt kommen. Bis zur U14 wollen wir also immer auch mal andere Sportarten implementieren, Akrobatik und Geräteturnen beispielsweise. Das ist gut für die Jungs, weil sich ihr Gehirn auf etwas anderes einstellen muss als nur auf Fußball und das in der Folge auch positive Auswirkungen auf beispielsweise Körperbeherrschung und Motorik haben kann.

hessenschau.de: Was hat sich personell und infrastrukturell getan, seit Sie am Riederwald sind?

Richter: Viel. Wir haben ein neues Elternmanagement, individuelle Talententwickler, Techniktrainer, einen Trainerentwickler, einen Koordinator für unsere Kooperationsvereine, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wir haben auch das Scouting erweitert, das ist nun gegliedert in europaweites Top-Talente-Scouting, Scouting in den Bundesligen und vor allem regionales Scouting, auf das wir unseren Fokus legen. Wir haben uns auf die Fahnen geschrieben, die besten Jungs aus dem Rhein-Main-Gebiet an uns binden zu wollen. Da sind jetzt auch die meisten unserer Scouts tätig. Und das klappt auch ganz gut.

hessenschau.de: Und die Infrastruktur?

Richter: Wenn wir uns als Top-NLZ etablieren wollen, brauchen wir mehr Fußballplätze, am besten Kunstrasen. Das müssen keine zehn Rasenteppiche nebeneinander sein, so wie in Tottenham, wo wir in der UEFA Youth League gespielt haben. Aber zwei, drei neue Plätze wären zielführend. Aber nicht nur Sportflächen, sondern auch bei den Büros benötigen wir dringend Kapazitäten. Hier befinden wir uns im Austausch, was am Riederwald möglich ist, denn das ist unsere Heimat. Wir würden gern mehr Teilzeitinternat anbieten. Das heißt, die Spieler können morgens kommen, auf unsere Partnerschule gehen und trainieren, müssen aber auch einen Ort haben, wo sie sich zurückziehen, ausruhen, Playstation spielen und mit den Kumpels ein bisschen rumalbern können, auch das gehört dazu. Und dann wird abends noch mal trainiert, danach werden sie nach Hause gebracht. Das alles ist zwar schon in Planung, das dauert aber.

hessenschau.de: Sie sagten, Sie hätten auch einen Trainerentwickler? Was macht der genau?

Richter: Je höher die Qualität der Trainer, desto höher die Qualität der Spieler. Also muss man die Qualität der Trainer stetig erhöhen, dafür ist der Trainerentwickler eine wichtige Stellschraube. Für diese Aufgabe haben wir Alexander Reifschneider geholt, der zuvor beim DFB war. Er sitzt jetzt jeden Tag mit einem anderen Jugendtrainer zusammen oder steht mit auf dem Platz und beobachtet das Training. Anschließend gibt es Feedback was auf den festgelegten Trainerkompetenzen in unserem NLZ beruht. Wie ist das Training geplant? Wie nimmt der Trainer den Staff mit? Wie werden die Individualtrainer eingesetzt? Wie korrigiert er Fehler? Wie empathisch ist er im Umgang mit den Spielern? Das alles wird dann besprochen, aber, und das ist mir ganz wichtig: Auf Augenhöhe und nicht von oben herab. So wollen wir unsere Trainer immer besser machen. Da kommt aber auch wieder etwas Wichtiges dazu.

hessenschau.de: Nämlich?

Richter: Die Bezahlung. Wir müssen, wie bei den Spielern auch, unsere besten Trainer an uns binden. Und wir müssen sie zu Jahrgangsspezialisten machen. Eine U13 hat ganz andere Anforderungen als eine U21. Der U21-Trainer wird aber viel besser bezahlt. Warum? Die U12 und U13 gelten als goldenes Lernalter, die Kinder nehmen in dem Alter extrem viel auf. Wenn ich jemanden habe, der darauf Lust hat und das gut kann, muss ich das auch entsprechend entlohnen. Damit meine ich nicht nur die Eintracht, das ist in ganz Deutschland so. Da müssen wir versuchen, ein wenig mehr Gerechtigkeit reinzubekommen.

hessenschau.de: Wie steht es um die Persönlichkeitsentwicklung der Spieler? Gibt es Regeln, die Sie für die Spieler im NLZ eingeführt haben?

Richter: Es gibt einen Kodex, aber der ist eher allgemein. Da geht es um ein respektvolles Miteinander, dem Gegenüber in die Augen schauen, grüßen, freundlich sein. Aber wirklich Regeln, mit denen wir etwas verbieten? Eher nicht. Persönlichkeitsentwicklung findet auch im Zusammenspiel mit den Eltern statt. Deswegen haben wir das Elternmanagement eingeführt, das wir perspektivisch noch intensivieren wollen. Die Eltern kennen ihre Kinder am besten, mit denen können wir besprechen, was das Kind braucht – Selbstständigkeit, Eigenverantwortung, Respekt – und wie wir ihm das gemeinsam vermitteln wollen.

hessenschau.de: Sie waren zuvor beim VfL Bochum tätig, sind lange im Geschäft und haben viele Talente gesehen. Was war an Leon Goretzka und Ilkay Gündogan anders als an anderen Talenten?

Richter: Beide waren extrem neugierig und wissbegierig und wollten sich immer weiterentwickeln. Beide haben neben dem Leistungssport die Schule eigenverantwortlich hinbekommen, sie hatten aber auch das entsprechende Elternhaus hinter sich. Sie haben sich nie für Geld interessiert, immer nur für den Fußball. Außerdem waren sie Leader-Typen, Ilkay etwas ruhiger, Leon ab und zu auch mal etwas lauter. Leon habe ich kurzzeitig selbst trainiert, als in der U15 in Bochum der Trainer gegangen war. Es gab bei einer taktischen Frage direkt eine kleine Diskussion, er wollte es sehr genau wissen und hat dann gesagt: ‚Nein, das sehe ich anders.‘ Er hatte schon damals eine klare Meinung. Ab und an sehen wir uns noch oder schreiben uns. Und auch heute will er immer über Fußball reden und sich noch immer weiterentwickeln.

hessenschau.de: Bei den U-Mannschaften der Eintracht läuft es richtig gut, Nacho Ferri hat seine ersten Einsätze bei den Profis gefeiert. Wie viel Alexander Richter steckt schon in diesen Ergebnissen?

Richter: Es dauert seine Zeit, bis man Ergebnisse sieht, und ich bin ja erst etwas über ein Jahr da. Nacho war bei den Junioren schon sehr spannend, dann haben wir ihn in die U21 gezogen, jetzt kann er bei den Profis dabei sein, und macht das sehr gut. Als Spielertyp passt das sehr gut. Wir haben uns zuletzt riesig über seine Einsatzzeiten gefreut. Elias Baum ist auch regelmäßig im Profitraining, und das mit erst 17 Jahren. Da bin ich gespannt, ob er sich auch noch den einen oder anderen Einsatz verdienen wird. Es tut sich etwas. Grundsätzlich ist das aber der Erfolg jedes einzelnen, der im NLZ für die Jungs tagtäglich sehr viel gibt, um irgendwann mal einen von ihnen im Deutsche Bank Park zu sehen.

hessenschau.de: Haben Sie sich ein Ziel gesetzt, wie viele Spieler aus dem NLZ jährlich zu den Profis kommen sollen?

Richter: Nein, das macht auch keinen Sinn, denn es gibt zu viele Variablen. Wie gut ist der Jahrgang insgesamt? Werden die besten Spieler von finanzstärkeren Vereinen abgeworben? Es wäre schön, wenn wir pro Jahr zwei Spieler bei den Profis anbieten könnten, das ist ja unser Job, daran müssen wir uns messen lassen. Aber festlegen lässt sich das nicht.

hessenschau.de: Bei der WM 2022 waren vier beim VfL Bochum ausgebildete Spieler im deutschen Kader. Blicken wir mal in die Zukunft: Wie viele bei der Eintracht ausgebildete Spieler stehen 2030 im deutschen WM-Kader?

(Lacht). Das ist eine Fangfrage, die ich nicht beantworten kann. Es war ja auch beim VfL nicht abzusehen, dass Leon Goretzka, Ilkay Gündogan, Lukas Klostermann und Armel Bella-Kotchap gemeinsam zur WM fahren. Aber es zeigt: Es braucht Kontinuität und Qualität an den wichtigen Stellen im Nachwuchsleistungszentrum, dann kann etwas entstehen. Wir wollen erst einmal so gut es geht für die Eintracht ausbilden. Wenn dann einer durch die Decke in Richtung Nationalmannschaft geht, umso besser. Aber wenn sich der eine oder andere seinen Traum vom Profi erfüllen kann, ob hier oder anderswo, dann haben wir unseren Teil dazu beigetragen und freuen uns genauso darüber.

Das Gespräch führte Stephan Reich