Noah Lyles feiert nach seinem Sieg im 100 m Finale

Genie und Wahnsinn Noah Lyles - die Geschichte des 100-Meter-Ass'

Stand: 06.08.2024 12:17 Uhr

Es ist die knappste Entscheidung in der modernen Olympia-Geschichte – US-Sprintstar Noah Lyles gewinnt mit gerade einmal fünf Tausendstelsekunden Vorsprung vor Kontrahent Kishane Thompson aus Jamaika die Goldmedaille über die Königsstrecke. Doch wer genau ist Noah Lyles?

Von Franziska Pietsch

28 Sekunden dauerte es bis Noah Lyles jubeln durfte. Doch dann erschien sein Name auf der Anzeigetafel des Stade de France – Und es gab kein Halten mehr bei dem 27-Jährigen. Er riss sich die Startnummer mit seinem Namen vom Trikot und brüllte in die Kameras. Lyles hat sein Versprechen eingelöst und mit einer Zeit von 9,79 Sekunden nach 20 Jahren wieder eine Goldmedaille über die 100 Meter zurück in die USA geholt.

Der Rockstar Noah Lyles

Der neue Sprint-König ist ein absoluter Showman, der gerne im Rampenlicht steht. Deutschlands beste Sprinterin Gina Lückenkemper kennt ihn gut, trainiert wie er in Florida. "Sobald eine Kamera da ist, ist Noah im Modus, und dann ist er der Entertainer. Ohne Kamera ist Noah ein anderer Mensch", sagt Lückenkemper.

Und Lyles fällt auf – Nicht nur durch seine knallig lackierten Fingernägel in den Farben der Vereinigten Staaten, sondern auch durch sein scheinbar unermessliches Selbstbewusstsein. Er setzte sich im Vorfeld des Finals maximal unter Druck, nur er könne in Paris Gold über die 100 Meter gewinnen. "Je mehr Augen auf mich gerichtet sind, desto besser bin ich", so seine Ansage.

Doch nach dem Karriereende von Sprint-Legende Usain Bolt freut sich die Leichtathletik über einen Mann, der das neue Gesicht und Aushängeschild werden kann, einen "Rockstar", wie Weltverbandspräsident Sebastian Coe einmal sagte. Aber auch ein Rockstar hat seine Päckchen zu tragen.

Sport als Ventil

Taucht man ein in die Kindheit von Lyles wird schnell klar: Einfach war sie nicht. Schon früh erkrankt der Sprinter an Asthma. Dem US-amerikanischen Fernsehsender CNN erzählte er von seinen vielen Aufenthalten im Krankenhaus. Er habe Hustenanfälle gehabt und sei ständig krank gewesen. Deshalb musste der Anime-Fan zunächst Zuhause unterrichtet werden. Eine Mandelentfernung, die Unterstützung seiner Mutter und eine Ernährungsumstellung sorgten schließlich dafür, dass er doch eine öffentliche Schule besuchen konnte.

Doch auch hier hatte der junge Lyles zu kämpfen. Er konnte sich nicht gut konzentrieren, bekam ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) diagnostiziert. Zusätzlich hat er eine Lese- und Rechtschreibstörung. Von Mitschülern wurde er oft gehänselt. So wurde der Sport zu seinem Ventil und einem Ort, wo er sich großartig fühle, sagte er gegenüber CNN.

Der Vewundbare

Während viele Sportler ein geradezu unverwundbares Bild nach außen abgeben, spricht der Olympiasieger offen über sein Innerstes. So ist es kein Geheimnis, dass der 27-Jährige unter Depressionen leidet. Zum ersten Mal wurde er damit nach der Trennung seiner Eltern konfrontiert. Seine Mutter Keisha zog ihn und seinen ebenfalls sprintenden Bruder alleine groß. Das Geld in der Familie war oft knapp, nicht immer war genug Essen da.

Auch die geisterhaften Olympischen Spiele in Tokio aufgrund der Corona Pandemie setzten dem US-Amerikaner zu. Ein leeres Stadion ist nicht der Ort, an dem Showman Noah Lyles performen kann. Am Ende reichte es lediglich für eine Bronze-Medaille über die 200 Meter.

Das sei für ihn der Wendepunkt gewesen, sagte Lyles, der parallel auch Musik macht. Er sei ständig auf der Suche nach Veränderung und Verbesserung. Das bestätigt auch Trainingskollegin Gina Lückenkemper. Sie berichtet immer wieder mit Hochachtung von der Hingabe, mit der Lyles für seinen Erfolg arbeitet. Und die Arbeit zahlt sich aus – 2023 krönte er sich zum dreifachen Weltmeister in Budapest.

Zwischen Selbstvertrauen und Überheblichkeit

Die extrovertierte Art des Sprint-Königs kann auch anecken. Wer sich selbst "ICON" (deutsch: Ikone) auf die Fingernägel lackiert, demonstriert ganz offensichtlich, was er von sich hält. Bereits vor dem olympischen Finale über die prestigeträchtigste aller Strecken seinen Triumph anzukündigen, ist zumindest gewagt. Doch Lyles konnte sein Wort halten, sprintete sogar in seiner persönlichen Bestzeit zu Gold.

Lyles weiß selbst, dass sein Verhalten auch kritisch gesehen wird. Doch seine Kritiker bittet er darum, seine ganze Geschichte zu betrachten. "Mein ganzes Leben wurde mir gesagt: Du kannst das nicht. Aber hier bin ich", sagte er auf einer Pressekonferenz in Paris. Sein Weg habe ihn Stück für Stück zu seinem jetzigen Selbstbewusstsein gebracht. Er könne auch verstehen, dass nicht jeder seine Vision sehen würde. "Aber widerlegen Sie nicht meine Vision, nur weil ich ihr nachgehen will. Ich lebe von diesen Dingen. Das ist es, wofür ich gebetet habe, das ist es, wovon ich träume", lautet sein Appell.

Auf der Social-Media-Plattform X richtete sich Lyles nach seinem Goldlauf mit einer emotionalen Botschaft an seine Fans: "Ich habe Asthma, Allergien, Legasthenie, ADS, Angstzustände und Depressionen. Aber ich sage euch, dass das, was ihr habt, nicht definiert, was ihr werden könnt. Warum nicht Du!"

Der schnellste Mann der Welt ist nicht nur eine Rampensau mit einem leichten Hang zur Überheblichkeit, sondern trägt auch eine Geschichte in sich, die ihn zu einem echten Ausnahmeathleten macht.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Sportschau Olympia 2024 | 26.07.2024 | 18:00 Uhr