Zehn Jahre nach Olympia 2014 in Sotschi Russlands Staatsdoping und die Folgen
Der russische Staatsdopingskandal rund um die Winterspiele 2014 gehört zu den größten der olympischen Geschichte. Der Weltsport ist bis heute mit den Aufräumarbeiten beschäftigt.
Zehn Jahre nach Sotschi versucht Arnd Peiffer, den sportjuristischen Irrsinn um ihn herum nicht allzu nah an sich ranzulassen. "Als wir damals Silber gewonnen haben, habe ich für mich versucht, das alles gar nicht so als 'sich betrogen fühlen' abzuspeichern. Damit würde ich ja nur meine Erinnerung kaputt machen", sagt der ehemalige Biathlet und heutige ARD-Experte mit Blick auf das olympische Staffelrennen von 2014.
Trotz eines Dopingfalls im damals siegreichen russischen Team wartet Peiffer, der seine Karriere 2021 beendet hat, gemeinsam mit seinen Teamkollegen Erik Lesser, Simon Schempp und Daniel Böhm noch immer auf eine Neuverteilung der Medaillen - und damit auf Gold. "Warten wir's ab. Wenn es am Ende so ist, dass wir Gold bekommen, dann widerfährt uns Gerechtigkeit, was natürlich auch schön ist."
Das Staffelrennen von Sotschi und die Folgen stehen sinnbildlich dafür, wie schwer sich die Institutionen des Weltsports damit tun, den gigantischen Scherbenhaufen aufzukehren, den Sotschi hinterlassen hat.
Olympia als Feigenblatt
Aber der Reihe nach: Sotschi war für das Internationale Olympische Komitee schon während der Austragung vor zehn Jahren in vielerlei Hinsicht problematisch. Russland ließ sich die Show irrwitzige 50 Milliarden US-Dollar kosten und pfiff auf die ersten zarten Versuche des IOC, den Gigantismus rund um die Spiele einzudämmen. Doch nicht nur russische Großmannssucht, sondern auch Umweltsünden, homophobe Auswüchse und Repressalien gegen Menschenrechtler durch die Gastgeber prägten die ersten Spiele unter dem deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach.
Vollkommen gerieten die Dinge außer Kontrolle, nachdem das Feuer im Kurort am Schwarzen Meer erloschen war. Am 18. März, drei Wochen nach der olympischen und nur zwei Tage nach der paralympischen Schlussfeier, annektierte Wladimir Putin die Krim. Die Einverleibung hatte er vorbereitet, als die Welt auf die Spiele in Sotschi blickte - Olympia als Feigenblatt. Dass sich Russland damals noch wesentlich weiter von den olympischen Werten entfernt hat, wurde mit Aufdeckung des Staatsdopingskandals offenbar.
Pound und McLaren schockierten die Sportwelt
Die ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping - Wie Russland seine Sieger macht" brachte Ende 2014 alles ins Rollen. Die Veröffentlichungen der Ergebnisse der daraufhin eingesetzten Untersuchungskommissionen des WADA-Gründungspräsidenten Richard Pound (November 2015) und Richard McLaren (Juli und Dezember 2016) schockierten die Sportwelt.
Während Pound sich eher mit Umtrieben in der Leichtathletik befasste, wies der Kanadier McLaren den Russen vor allem in Bezug auf Sotschi Betrügereien ungeahnten Ausmaßes nach: heimlicher Austausch von Dopingproben durch ein Loch in der Wand, flächendeckende Manipulationen, Dopingcocktails vom Mastermind und späteren Kronzeugen Grigorij Rodtschenkow, alles flankiert vom Geheimdienst und abgesegnet vom Sportministerium.
Sotschi bildete den Höhepunkt des russischen Staatsdopingsystems, das in dieser Form nach Überzeugung der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) zwischen 2012 und 2015 lief.
"Wellenbewegung, die bis heute anhält"
"Das Ausmaß war sehr viel größer als das, worüber wir zunächst berichten konnten", sagt Richard McLaren im Gespräch mit der ARD-Dopingredaktion über seinen aufsehenerregenden ersten Report im Sommer 2016: "Das, womit wir es zu tun hatten, hat eine Wellenbewegung ausgelöst, die bis heute anhält.“
Zunächst sperrte das IOC im unmittelbaren Zusammenhang mit Sotschi 42 russische Athletinnen und Athleten, erkannte zahlreiche Medaillen ab. 30 der angeklagten Russen wurden schließlich vom Internationalen Sportgerichtshof CAS trotz klarer Hinweise, direkt vom Staatsdoping profitiert zu haben, aus Mangel an Beweisen für individuelle Doping-Vergehen im Februar 2018 freigesprochen. IOC-Boss Bach tobte - gleichzeitig fiel er zu dieser Zeit immer wieder durch Rhetorik und Manöver auf, die das Ziel zu haben schienen, die mächtige Sportnation Russland bloß nicht zu sehr zu verprellen.
9.453 verdächtige Dopingproben
Bachs Russland-Nähe wirkte mit der Zeit immer befremdlicher, denn Moskau versuchte aktiv, Aufklärung zu verhindern. Im Januar 2019 händigten die Russen erst auf immensen internationalen Druck und nach langem Taktieren der WADA Tausende Athletendaten aus dem Moskauer Kontrolllabor aus - die sich aber als großflächig manipuliert entpuppten. Dieser Datensatz - das geht aus vertraulichen WADA-Unterlagen hervor, die der ARD-Dopingredaktion vorliegen - umfasste unter anderem Ergebnisse von 63.277 Dopingproben. Davon stufte die WADA sage und schreibe 9.453 als verdächtig ein: Sie könnten manipuliert und fälschlicherweise als negativ ausgewiesen worden sein.
Es ging um Analysen aus der Hochzeit des russischen Staatsdopings, von Januar 2012 bis August 2015. Dem vertraulichen WADA-Report von November 2023 zufolge resultierten aus der "Operation Lims" bislang 834 russische Dopingfälle. In 280 Fällen wurden Sanktionen verhängt, 409 wurden ergebnislos zu den Akten gelegt, 145 sind noch immer nicht abgeschlossen. Unter anderem deshalb hat die WADA die russische Anti-Doping-Agentur RUSADA noch nicht wieder zugelassen, obwohl deren Sperre formell bereits abgelaufen ist.
Einer dieser russischen Lims-Fälle ist der des Biathleten Ustjugow. Jener Fall, der dafür sorgt, dass die Mitglieder der deutschen Sotschi-Staffel noch immer nicht ihre Goldmedaillen in Empfang nehmen durften. Sie müssen sich in Geduld üben, obwohl der Weltverband IBU Ustjugow bereits 2020 sperrte, das IOC danach das russische Staffelergebnis von Sotschi annullierte und seitdem keinen Goldmedaillen-Gewinner des Rennens in seinen Statistiken führt.
Seit anderthalb Jahren ist nichts passiert
Auf ARD-Anfrage erklärte die IBU, es laufe noch immer ein russisches Einspruchsverfahren vor dem CAS, und man warte seit der letzten Anhörung auf eine Entscheidung - jene Anhörung fand vor mehr als anderthalb Jahren statt. Das IOC wiederum betonte, sein höchstes Gremium, das allein für die Neuvergabe von olympischen Medaillen zuständige Exekutiv-Board, könne aber nicht entscheiden, bevor das letzte CAS-Urteil bestätigt ist.
“Alles braucht seine Zeit, aber könnte es schneller gehen? Ja, es könnte und es sollte!“, sagt Richard McLaren mit Blick auf die generelle Sotschi-Aufarbeitung: "Aber dieses System ist nicht so effizient, wie es sein könnte." Deshalb wartet auch Erik Lesser einfach weiter. Ob es am Ende Gold wird oder Silber bleibt, ist ihm mittlerweile fast egal: "Mir geht's einfach um die Entscheidung. Ich will den Fall nur irgendwann mal gerne abgeschlossen haben."