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Gewichtheberin vor Gericht Urteil in deutschem Dopingfall könnte wegweisend sein

Stand: 28.02.2023 07:17 Uhr

Gewichtheberin Vicky Schlittig steht wegen angeblichen Dopingmissbrauchs vor Gericht. Gutachter gehen aber davon aus, dass sie nicht betrogen hat. Doch selbst ein Freispruch würde ihr als Athletin möglicherweise nicht helfen.

Sportrechtler schauen gespannt auf den Dopingfall einer deutschen Nachwuchs-Gewichtheberin. Wegen mutmaßlichen Verstoßes gegen das Anti-Doping-Gesetz muss sich Vicky Schlittig aus Gröditz in Sachsen ab Dienstag (28. Februar) vor dem Amtsgericht Chemnitz verantworten. Der Fall könnte für das Sportrecht richtungsweisenden Charakter haben. Denn starke Hinweise auf Schlittigs Unschuld befeuern erneut die Debatte über die Beweislast, die Athletinnen und Athleten grundsätzlich aufgebürdet wird.

In Chemnitz wird es auch um ein vom Gericht in Auftrag gegebenes Gutachten gehen, das Vicky Schlittig stark entlastet. Verfasst haben es Experten des von der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA akkreditierten Kontrolllabors im sächsischen Kreischa bei Dresden. Sie sprechen die Athletin im Grunde vom Vorwurf des vorsätzlichen Dopings zur Leistungssteigerung frei.

Ungewöhnlicher Urin-Befund

Es wurden zwar Auffälligkeiten, die den Verdacht der Einnahme des DDR-Dopingklassikers Oral-Turinabol begründen, in Schlittigs Urin festgestellt, aber sonderbarerweise wurden übliche Abbauprodukte der Substanz nicht gefunden. Auch dies spreche laut Gutachten gegen eine "pharmakologisch relevante Manipulation und eine resultierende Leistungssteigerung". Sprich: gegen absichtliches Doping zur Leistungssteigerung.

Ungewöhnlich zudem: Weitere Routine-Tests unmittelbar vor und nach dem Wettbewerb waren negativ ausgefallen. Schlittig war im Rahmen der Junioren-EM im Gewichtheben in Finnland im September 2020 positiv getestet worden. Für Steffen Lask, den Anwalt der Athletin, ist klar: "Ich erwarte vom Gericht einen Freispruch für meine Mandantin." Weitere strafrechtlich relevante Indizien gegen seine Mandantin und den Vorsatz des Dopings kann die Staatsanwaltschaft dem Vernehmen nach nicht vorlegen.

Manipulation über die Haut?

Denn nicht nur das Gutachten aus Kreischa entlastet sie. Auch der niederländische Anti-Doping-Experte Douwe De Boer hat eine Expertise verfasst, in der er zum Schluss kommt, dass es hier wohl nicht um Doping geht – und stattdessen vielleicht sogar um Manipulation durch Dritte.

Der Hintergrund: De Boer berücksichtigt neueste wissenschaftliche Erkenntnisse aus Köln über ein Experiment, das die ARD im Film "Geheimsache Doping: Schuldig" im Sommer 2022 thematisiert hatte. Das Experiment zeigt, wie einfach ein positiver Test bereits über flüchtige Berührungen der Haut – etwa einen Handschlag – verursacht werden kann. Eine darauf fußende Studie des Instituts für Rechtsmedizin an der Universität Köln bestätigte die Ergebnisse dieses Experiments. Darin hatte auch Oral-Turinabol, das bei Vicky Schlittig nachgewiesene Mittel, nach einer flüchtigen Berührung zu einem positiven Befund geführt.

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Sperre möglich, trotz eines Freispruchs

Viele entlastende Informationen kommen also zusammen, die auch dem Internationalen Sportgerichtshof CAS vorliegen. Dort wird derzeit die sportrechtliche Entscheidung des Falles vorbereitet. Wann ein Urteil fallen könnte, ließ der CAS auf ARD-Anfrage offen. Verteidiger Lask fürchtet, dass die Chancen seiner Mandantin dort nicht gut stehen: "Im sportrechtlichen Verfahren muss der Athlet seine Unschuld beweisen", sagt Lask.

Anders als im Strafrecht, in dem der Ankläger Schlittig die Tat nachzuweisen hat, muss die Gewichtheberin im Sportrecht nachweisen, wie die Substanz ohne ihr Wissen in ihren Körper gelangen konnte. Es ist das Prinzip der Beweislastumkehr im Sport. Angesichts der neuesten Forschungsergebnisse sei für Lask "aber definitiv ein Punkt erreicht, an dem man über die Geltung dieses Grundsatzes nachdenken muss".

Wackelt das Schuldprinzip im Anti-Doping-Kampf?

Auch bei der Nationalen Anti-Doping-Agentur (NADA) sind sich die Verantwortlichen im Klaren darüber, dass die Causa Schlittig richtungweisenden Charakter haben könnte. "Ich glaube schon, dass sich dieser Fall auf die zukünftige Anti-Doping-Arbeit auswirken kann", sagt NADA-Justiziar Lars Mortsiefer: "Man muss halt schauen, ob das Regelwerk auch genügend Mechanismen hat, um mit Sabotage-Situationen und dem entsprechenden Beweismaßstab für Athletinnen und Athleten adäquat umzugehen."

Das Prinzip der Schuldfrage im Sportrecht sieht die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA allerdings unangetastet. Die neue Studie aus Köln sei zwar "interessant", sagt Olivier Rabin, wissenschaftlicher Direktor der WADA. Doch es bleibe dabei: "Der Athlet hat eine Substanz in seinem Körper. Das ist der Ausgangspunkt. Die umgekehrte Beweislast sieht nun vor, dass der Athlet erklärt, warum das so ist."

Dies infrage zu stellen, würde aus Sicht der WADA womöglich das ganze System aushebeln: "Wären die Regeln anders, könnte jeder sagen: 'Ich weiß es nicht. Vielleicht hat mir jemand was gespritzt. Ich habe keine Ahnung, also trifft mich keine Schuld.'"

Klar scheint derzeit nur: Der Fall Schlittig geht mit dem Termin am Amtsgericht in Chemnitz am Dienstag erst richtig los.