Comeback nach Depression Josip Iličič - Über die Ziellinie
Gegen England kam der Slowene Josip Iličič zu seinem EM-Debüt - ein besonderer Moment, der zu Beginn der Qualifikation für dieses Turnier noch unvorstellbar schien.
Vor zwei Jahren war die Karriere von Josip Iličič schon fast zu Ende. Zumindest im europäischen Spitzenfußball, davon musste man damals ausgehen, würde er nicht mehr zu sehen sein. Iličič hatte zum zweiten Mal mehrere Monate bei seinem Verein Atalanta Bergamo gefehlt. Nicht verletzt, sondern wegen einer Depression. Sein Vertrag wurde im beidseitigen Einvernehmen aufgelöst.
Ein etwas unwirklicher Spielmacher
Doch jetzt ist er wieder da. Am Dienstagabend gegen England (0:0) steht Iličič am Spielfeldrand, das blaue slowenische Nationaltrikot mit der Nummer 26 am Körper, und applaudiert dem vom Feld trottenden Mitspieler Benjamin Šeško. Ein Abklatschen, dann joggt er aufs Feld. Ernst guckend, das kennt man von ihm.
Die Schritte des 36-Jährigen sind die eines alten Sportlers. Aber der Mann, der hier die EM-Bühne betritt, ist immer noch einer der talentiertesten Kicker beim Turnier in Deutschland. Ein Spieler der Marke "The streets won't forget". Ein großartiger Techniker. Zu wenig erfolgreich, um in die Ruhmeshalle dieses Sports aufgenommen zu werden, aber so einmalig, dass man sich an ihn erinnern wird. Auch, weil er ein bisschen unwirklich daherkommt, mit seiner leicht buckligen Körperhaltung, die Beine eigentlich zu staksig für die feinen Finten und Ballstreicheleien, die seine Füße vollbringen können.
Viererpack in der Champions League
Noch vor vier Jahren war Iličič der Star eines der spannendsten europäischen Teams. Für Atalanta Bergamo gelangen dem offensiven Mittelfeldspieler in der Saison 2019/20 in allen Wettbewerben 21 Tore. Im März 2020 schoss er einen Viererpack im Achtelfinal-Rückspiel der Champions League gegen Valencia, schon im Hinspiel hatte er einmal getroffen. Iličič war in der Form seines Lebens.
Sein damaliger Trainer Gian Piero Gasperini sagte später einmal in einem Interview mit "Sky Italia", sein Schützling habe in dieser Phase zu den besten Spieler Europas gezählt. "Vielleicht sogar ein Kandidat für den Ballon d’Or" sei der Slowene damals gewesen.
Besondere Beziehung: Josip Iličić (rechts) Arm in Arm mit Trainer Gian Piero Gasperini.
Corona weckt Iličičs Dämon
Aber im März 2020 beginnt auch die Zeit, in der ein Dämon die Macht über Iličič erlangt. Die Corona-Pandemie trifft Bergamo hart. Bilder von Militärtransportern voller Särge gehen um die Welt. Auch Iličič infiziert sich mit dem Virus und bekommt psychische Probleme - was mit alten Ängsten zusammenhängen könnte.
Zwei Jahre zuvor war Iličičs ehemaliger Mitspieler Davide Astori verstorben, der Kapitän der AC Florenz. Ein Herzstillstand mit 31 Jahren, Astori wachte eines Morgens einfach nicht mehr auf. Als Monate später beim Spiel Florenz gegen Bergamo die Fans beider Teams in der 13. Minute (die Rückennummer Astoris) klatschten, brach Iličič auf dem Platz in Tränen aus, Astori soll ein guter Freund gewesen sein.
Später erzählte Iličič in einem Interview mit der Zeitung "Corriere dello Sport", er habe nach dem Tod Astoris lange Zeit Angst vor dem Schlafengehen gehabt. Er dachte an Astori und fürchtete den Tod. Die Coronapandemie könnte diese Angst wieder erweckt haben. Als der Ball im August 2020 nach kurzer Pause wieder rollte, war Iličič jedenfalls nicht mehr der Gleiche.
Vorerst letztes Länderspiel 2021
Atalanta bereitete sich ohne ihn auf das Viertelfinal-Spiel der Champions League gegen Paris Saint-Germain vor. Der Star des Teams lag währenddessen in einer Klinik. Die genaue Diagnose ist öffentlich nicht bekannt geworden, später erzählte sein Mitspieler Papu Gómez, das sei die erste depressive Phase gewesen. Definitiv war es der Beginn seiner Leidenszeit.
"Ich habe ihn eine Woche vor dem Spiel in der Klinik besucht. Er hatte etwa zehn oder zwölf Kilo abgenommen. Es war unglaublich, ich konnte ihn nehmen und wie eine Puppe hochziehen", erzählte Trainer Gasperini in seinem Interview mit "Sky Italia". "Ich sagte: 'Komm schon, Josip, komm mit uns nach Lissabon'", sagte Gasperini, dann schossen ihm Tränen in die Augen. Josip Iličič hatte Atalanta ins Finalturnier der Champions League geführt, aber er verpasste es.
In der folgenden Saison spielte der Slowene wieder und das sogar gut. Doch die Dämonen kamen zurück. Im November 2021 absolvierte Iličič sein vorerst letztes Länderspiel für Slowenien, im Januar das vorerst letzte Ligaspiel für Bergamo. Diesmal fehlte er auch ganz offiziell wegen einer Depression. Am letzten Spieltag der Saison wurde er noch einmal eingewechselt, im August wurde sein Vertrag aufgelöst.
Gasperini wünschte ihm "ein neues Leben"
Iličičs Verabschiedung im Stadion in Bergamo war bewegend. Trainer Gasperini, der ein sehr gutes Verhältnis zu Iličič haben soll, sagte: "Er ist ein großartiger Teil unserer Vereinsgeschichte. Ich wünsche ihm nur das Beste." Gasperini hoffte, sein Schützling möge irgendwo weiter Fußball spielen. "Dann kann für ihn ein neues Leben beginnen", so Gasperini.
Zwei Monate später feierte Iličič sein Comeback. In der slowenischen Liga beim NK Maribor. Er war deutlich sichtbar nicht austrainiert. Und noch deutlich sichtbarer technisch viel zu gut für die Liga seines Heimatlandes. Der Altstar bewegte sich übers Feld wie ein Ex-Profi Jahre nach seiner Karriere durch eine Bezirksliga. Viel langsamer als seine Gegner, aber viel zu ballsicher, um gestoppt zu werden. Seit Januar gelangen Iličič fünf Tore und acht Vorlagen in 16 Spielen.
"Eine Ziellinie wie diese hat mir gefehlt"
In die Nationalmannschaft kehrte er erst zur Europameisterschaft zurück. Sein Comeback gab er im Juni, in den letzten Vorbereitungsspielen vor der EM. Gegen Armenien gelang ihm sofort das Siegtor. Iličič schaffte es in den Kader und wählte die Nummer "26". Die letzte Nummer im Kader, als Zeichen, dass nicht er, sondern die anderen Spieler die Qualifikation für dieses Turnier geschafft hatten.
Das 83. Länderspiel für Slowenien war sein erstes bei einem großen Turnier. Nach der Einwechslung gegen England sprach er nur mit wenigen Medien. Interviews sind nicht Iličičs Lieblingsbeschäftigung. Auf italienisch sagte er dann doch etwas, bei "Sky Italia". Es sei nicht so, dass er jetzt aufhören wolle, sagte Iličič, "aber eine Ziellinie wie diese hat mir gefehlt, um sagen zu können, dass ich alles gegeben habe, um so ein Spiel mit so einem Ergebnis erleben zu können".
Am Montag (21.00 Uhr, im Livestream) spielt Slowenien gegen Portugal das erste EM-Achtelfinale seiner Nationalmannschaftsgeschichte. Josip Iličič wird dabei sein - und das ist eine der schönsten Geschichten dieses Turniers.